Candide oder Der Optimismus, HB

 Musik von Leonard Bernstein, Songtexte von Richard Wilbur – Aufgeführt am Royal National Theatre, 13. April 1999
Buch adaptiert nach Voltaire von Hugh Wheeler. In einer Neufassung von John Caird
Weitere Songtexte von Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellman, Dorothy Parker und Leonard Bernstein

Theater am Goetheplatz, Bremen, 2017
Musikalische Leitung: Christopher Ward mit dne Bremer Philharmonikern, Regie: Marco Storman, Dramaturgie: Ingo Gerlach; Bühne: Jil Bertermann, Kostüme: Bettina Werner, Chorleitung: Alice Meregaglia, Choreografie: Alexandra Morales
mit: Wolfgang von Borries, Holger Bülow, Iryna Dziashko, Christian-Andreas Engelhard, Julius Jonzon, Yosuke Kodama, Moritz Löwe, Nathalie Mittelbach, Allan Parkes, Nerita Pokvytyté, Borger Radde, Erik Remmers, Jörg Sändig und dem wie immer vortrefflichen Chor des Bremer Theaters

 

“Alles gut!”…

… das ist seit geraumer Zeit ein geflügeltes Wort: Jedermann antwortet auf persönliche Fragen mit diesem abwehrenden Stereotyp, und man weiß nicht recht, will er sich jede weitere Antwort vom Leibe halten, ist ihm das Thema zu heiß, zu schwierig, zu intim oder weist er nur einfach jede tiefergehende  Erörterung  ab? Jedenfalls läßt dieser Satz beim Empfänger ein undefinierbares Unbehagen ob dieser scheinbar optimistischen Haltung zuück.

Oscar Wilde, der grandiose Be-Spötter aller Oberflächlichkeiten, befand, dass  „die Grundlage des Optimismus die blanke Angst sei“ ,und Leonard Bernstein schrieb, dass „der Optimismus als Glaube  Lethargie erzeuge, die menschliche Kraft hemme, Dinge zu ändern, sich zu entwickeln, sich gegen Ungerechtigkeit aufzulehnen, irgendetwas zu erschaffen, das zu einer grundsätzlich besseren Welt beitragen könnte.“

Leonard Bernstein läßt die lange Zeit verfemte Gesellschaftssatire des französischen Schriftstellers und Denkers Voltaire in musikalischer Bildsprache auferstehen und umgibt sie mit einer Virtuosität, die, wie gewohnt, zwischen Musical, Oper, Operette immer einfühlsam, zuweilen zärtlich, dann wieder grell-katastrophal changiert und hohe wütende Wellen auftürmt, wenn es an physische, psychische und moralische Grenzen geht. Die Bremer Inszenierung läßt die Erzählung des Franzosen in der Neufassung von John Caird aus dem Jahr 1999 in großer Orchesterbesetzung der Scottish Opera Version spielen, die den Handlungsablauf strafft und sich auf die philosophische Auseinandersetzung konzentriert.
Denn das war die Geburt dieser eigentlich furchtbaren Reise des jungen naiven Candide durch eine Welt der Feindseligkeiten, die der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner metaphysischen Begründung des Optimismus als “die Welt in der wir leben, als die beste aller möglichen Welten” bezeichnet. Voltaire, der diesem Postulat die Wirklichkeit mit pessimistischer Skepsis angesichts der verheerenden Naturkatastophen wie dem Erdbeben von Lissabon (1755) und dem Siebenjährigen Krieg, den Machtansprüchen eines überheblichen Adels, Kriegen und Sklaverei gegenüberstellt, war kein Atheist, aber antiklerikal  und anti-missionarisch eingestellt angesichts des sichbar brutalen Missbrauchs dieser Institutionen.
Die beste aller Welten? Dummheit, Hass, Vernichtung, Kriege, Vergewaltigung, bestialische Folter – all das begegnet dem unerfahrenen Candide auf der Suche nach seiner geliebten Halbschwester Cunigonde. Doch weder im Wort noch im Bild entsteht eine brutale Schlammschlacht – die Erzählung wird in eine phantastisch skurrile, grellbunte  Choreographie eingebettet und in bildhaften Bühnenbildern fortgeführt, zwischen denen sich die Protagonisten auf ihrer Katastrophenweltreise in Wortreimen und musikalischen Parodien mit zynischen Doppelbödigkeiten zwischen Naturkatastrophen, Piraten, Sklavenhändlern, Inquisitioren und anderen Übeltätern fortbewegen. Bis zur Lächerlichkeit präsentieren sich die Vernichter einer “besseren Welt”, die prächtig kostümierten und mit bedrohlichen Riesenköpfen versehenen “Beherrscher” weltlicher und kirchlicher Instanzen.

Allerdings wäre es kein opernhaftes Musical, wenn Bernstein seinen Sängern, wie der großartigen Nerita Pokvytyté als Cunegonde nicht auch starke emotionale Partien geschrieben hätte, in denen sie ihr unaussprechliches Schicksal ebenso herzzerreißend beklagen als auch in zynischer Selbstanalyse beurteilen darf. Leicht und zart schwebt sie vom Bühnenhimmel, noch an langen Kettenfäden gefesselt, zu dem geliebten Candide und auf die irdische Realität zu, in der sie stellvertretend für alle Frauen dieser Welt und aller Zeiten die bestialischen Mißhandlungen, die ihr angetan wurden, aus ihrem Innersten mit ätzender Schärfe herausschleudert.
Und Christian Andreas Engelhard, ein neuer Star in der Tenorriege des Bremer Theaters, begibt sich als Candide auf eine Reise, die ihm, der zutiefst in den Grundlagen der seltsamen Philosophie seines Leibniz-Lehrers verhaftet ist, eher Erstaunen und Schrecken als wirkliche Furcht einjagt. Seine Naivität erstaunt und schützt ihn vor dem Tod, dem er doch ständig so nahe ist, und er geht seinen Weg wie der Tor Simplizius Simplizissimus, mit beeindruckender Zielstrebigkeit.
Und so hat der kluge Voltaire seinen jungen illegitimen Adeligen auf die Reise einer grausamen Selbst- und Welterfahrung geschickt. Vom bürgerlich ruhigen Westfalen über die Länder dieser Erde bis hin zur letzten Station, umgeben und begleitet von seinen wenigen, ebenfalls an Leib und Seele ebenso lädierten wie geläuterten Freunden, in die ländliche Genügsamkeit und realistische Folgerung, dass “jeder seinen Garten selbst bestellen möge”, was hieße, auf seinem eigenen Gebiet der Talente und Fähigkeiten Entsprechendes zu leisten. A.C.

Ohne inhaltliche Vorbereitung ist diese anspruchsvolle Aufführung allerdings nicht leicht verständlich.

 

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