Lucia di Lammermoor, HB

Dramma tragico in drei Akten von Gaetano Donizetti, Uraufführung 1835 im Theatro San Carlo, Neapel
Text von Salvadore Cammarano nach dem Roman
„The Bride of Lammermoor“ von Sir Walter Scott
Theater am Goetheplatz, Bremen 2018
Musikalische Leitung: Olof Boman, Regie:  Paul-Georg Dittrich, Dramaturgie: Caroline Scheidegger, Bühne und Kostüme:  Pia Dederichs und Lena Schmid, Video: Jana Findeklee, Choreographie: Lotte Rudhart, Licht: Christopher Moos, Chor: Alice Meregaglia,
mit:
Lord Enrico Ashton: Birger, Radde, Miss Lucia, seine Schwester: Nerita Pokvytyte, Sir Edgardo di Ravenswood: Hyojong KimLord, Arturo Bucklaw: Luis Olivares Sandoval, Raimondo Bidebent: Christoph Heinrich, Normanno: Christian-Andreas Engelhardt, Sopransolo: Martina Parkes, Junge Lucia Alisa Hrudnik, Wiktoria Stellmacher, Junger Edgardo: Evgeny Osovitski, Max Geburek, Alte Lucia Marion Hartmann, Sibylle Bülau, Alter Edgardo Erwin Röbbecke, Ernst-August Hartmann, Glasharmonika: Phillip Alexander Marguerre, Sebastian Reckert, Opernchor des Theater Bremen, Bremer Philharmoniker

Familienfehden im Prisma der Geschichte

Natürlich müssen sie einander gekannt haben, wenn auch erst in späteren Jahren: der leichtherzige Romantiker Gaetano Donzetti und der schwermütige Guiseppe Verdi, wenngleich der Abstand doch in jener Zeit räumlich wie künstlerisch beträchtlich war. Und doch: da schwingen Töne in Donizettis Romeo-und Julia -Liebesversion mit, die an Verdis Gefangenchor in Nabucco erinnern, und die Kostümbildnerin hat den Chor als dem Clan der Ashtons ergebenen Diener und Krieger in schwarze Gewänder mit goldbetressten Schärpen gekleidet, deren eindrucksvolle Würde an ägyptische  Herrscherhöfe erinnern. Aber hier spielt das Drama im hohen Norden, was hin und wieder Eiskrisstalle per Video signalisieren, Eis auch als Symbol der eiskalten Rache.

Das Liebesdrama aber schwelgt geradezu für Lucia in leidenschaftlichen warmen Tönen, schluchzenden Kantilenen, trillernden Koloraturen, die kein Ende nehmen können;   Es geht nicht um das Volk, sondern allein um die Liebe, die dem politischen Kalkül geopfert wird. Und dies ist von Beginn an überaus präsent: Mit übergroßen gräßlichen Raubtierschädeln umflattern die Rabenvögel in Menschengestalt um den verarmten letzten Nachkommen der einst mächtigen Familie Ashley: Enrico, von Birger Radde glänzend als Bösewicht, doch auch als tragische Figur gespielt, der jähzornig und ausweglos durch das Feld der letzten Überlebenschance stampft und dabeit schlägt und zertritt, was sich ihm in den Weg stellt. Noch sind es die grässlichen Raubvögel, an denen er seine Wut und den ererbten Hass auf den feindlichen Clan der Ravenswood ausläßt. Die Vögel drängen sich im bleichen Zwielicht als Symbole des Todes und der Verwesung flüchtend zusammen. Aber auch der mächtige Stierkopf, den Lucia zuweilen in den Armen hält, steht in dieser Symbolik. (Denn in der mythischen Vorgeschichte rettet der junge Lord Ravenswood unerkannterweise die von einem Stier angegriffene Lucia und ihren Vater mit einem perfekten Gewehrschuss in letzter Minute vor dem sicheren Tod)

Dabei hat sich der Regisseur mit all seiner Phantasie und ihrer literarisch korrekten Anlehnung an die Historie – ergänzt mit den Videovariationen der Entfremdung – auf einen Pfad begeben, der überaus nahe an die Erzählung von Sir Walter Scott heranreicht, und dass sich die Personen ein bißchen vertauschen, ist natürlich der dramaturgischen Bearbeitung zu gestatten, sonst würden  ja Tage vergehen, bis alle gestorben und begraben sind. Aber diese wundervollen Operngestalten leben ja noch heute, weitaus mehr in Donizettis umwerfendem Melodram als in Sir Walter Scotts feinnerviger Geschichte – aber sie wäre dennoch lesenswert, weil Scott aus dem Gerüst der Sage mit ausschmückender Sprachvielfalt um die Darstellung weiter Lebensbereiche jener Zeit bemüht ist, und   das Mythos spannend und liebevoll ausschmückt. Es war die Zeit der romantischen Verklärung, der tragischen Lieben und Zweckehen, bei denen die unglücklichen weil unpassend Verliebten jeweils herzzerreißend aus dem Leben schieden und ihr Lesepublikum schluchzend zurückließen.

Bei Donizetti schluchzt natürlich auch die unglückliche Lucia in dunkel ahnungsvoller Gewissheit, dass ihr Geliebter Edgardo di Ravenswood, der sie eines poltiischen Auftrags wegen allein im kühlen Schottlland zurücklassen muß, ihr beider Glück damit gefährdet. In der ersten großen Liebesarie, ungeachtet der hasserfüllten Familienfehde, wirbt Edgardo (Hyojong Kim) um Lucia und schwört ihr stürmisch verliebt mit aufbrausender Leidenschaft ewige Treue. Doch diese Begegnung ist auch zugleich Abschied, und Lucia spürt dies sehr genau. Ihre Arie Im nächtlichen Walde an der geheimnisvollen Quelle, an der beider Urahnen (auch diese sind in Persona, wenn auch nur stumm präsent) einander schon begegneten, ist inzunächst in eine einfache, notturnoartig wogende Melodie gehüllt, die sich mit anschwellender Erregung Lucias bereits zu einer ersten ekstatischen Koloraturpasssage zuspitzt. Denn Lucia, deren kindliches Ich zuvor noch leicht wie ein Schmetterling durch die Reihen der düsteren Hofchargen tanzte, ist nun plötzlich eine erwachsene Frau geworden, deren kindliches und  übersensibles Gemüt kaum je erfassen wird, wie die Welt um sie herum wirklich bestellt ist, die vorläufig noch mit einer Charade auf dem Thespiskarren der Waldbühne in scheinbarer Harmlosigkeit das Familienschicksal andeutet.

In der alten Sage ist es das Haus des Richters und Poliitkers Lord Ashton, der den Rivalen Ravenswood zugrunderichtet und auch die Liebe zwischen dem letzten dieses Geschlechts und seiner Tochter zerstört. In der Oper ist es nun umgekehrt: mittlerweile haben die Ashleys Vermögen und Ansehen verloren, und die Ravenswood sind, obwohl ihres Besitzes im Wechsel der Feinseligkeiten beraubt, doch in der glücklicheren Lage. Nichtsdesto trotz, die alte Fehde schürt den Rachegedanken Edgar Ashtons, der seine Schwester mit dem reichen und einflussreichen Lord Arturo Bucklaw verheiraten will und das, sobald es geht.  Und dieser Mensch, von Luis Olivares Sandovar gespielt, den wir als so bewegend sanften und einfühlsamen Interpreten kennen, gebärt sich hier als ungemütlicher Patrarch im goldenen, Ehrfurcht erheischenden Prachtgewand, dem man jäh in seinem scharfen und drohend  gesetzten Ton bar aller tenoralen Lyrik blanke Gewalt eher zutraut als die Rolle eines liebenden Ehegemahls.
Und weil die Geschichte ja eigentlich bekannt ist, muss natürlich die Szenerie angereichert und ausgeschmückt werden, um den Sängern und dem Publikum neben dem Ohrenschaus auch eine neue Fassung zu bieten. Und da dies ja bekanntlich nicht bei allen Inszenierungen glücken kann, ist es diesmal besondern erfrischend, die Vielfalt von Regiekunst und Dramaturgie, exakt ausgeleuchtetem Bühnenambiente und stimmiger Choreografie zu sehen. Und alles passt exakt: ein temperamentvolles Orchester begleitet unter dem Dirigat von Olaf Bomann stimmungsexakt Höhen und Tiefen der Liebenden und der Kontrahenten, läßt Lucia, die Lichtgestalt, von Harfe und Glasharmonioka bereits in hauchzarte, schon nicht mehr fassbare Gefilde des Wahns entfleuchen, treibt Birger Radde als den  tyrannischen Lord Enrico in eine furchterregende martialische Fasson, und läßt seine bleichgesichtigen Getreuen, den Priester Raimondo in der kurzbehosten und tätowierten Horror-Version von Christoph Heinrich tiefgrundig und doppelzüngig sein Spiel treiben wie den Berater Normanno im Kanzlerrock und Januskopf im treuergebenen Gefolge. Und so tricksen die drei von der Macht die arme Kleine mit Lügen über den fernen Verlobten hinterhältig aus und treiben sie in den Abgrund. Dass sie selbst durch Lucias Wahnsinnsmord an dem verhassten Gatten auch ins Verderben stürzen, ist eine befriedigende, dem Publikum gezollte Gerechtigkeitsvariante.

Was will man mehr: ein Opernabend, wie er sein sollte – mit hoch artifizieller Musik, romantischer Liebe, Herz-Schmerz, böser Politik, mächtigen Barden, schönen und hilflosen Damen in leichten fließenden Gewändern, mit Noten bedruckt, die Männer herb und kraftvoll. Allesamt Opfer ihrer Tradition, ihrer Gefühle, ihrer Machtgier, ihres Familienbewußtseins. Auf der Rückwand der Bühne verschwimmt auf den Video-Bildern ein sich ständig änderndes farbenfrohes Prisma vermutlich das Zerrbild heutiger, menschenleerer, kunstlich beleuchteter Großstadtstraßen – abwechselnd mit Eiskristallen, die den HImmel bedecken und – wieder zurück im 16. Jahrhundert verhärmter und verarmter Untertanen, die unter den Fehden der mächtigen Clans aufgerieben wurden.

Aber es ist vor allem die unglaubliche, schlank emporschwebende, sich verströmende und ständig neu entfaltende musikalische Sensibilität von Nerita Pokvytyté, die offensichtlich Tag und Nacht in Koloraturen schwelgt, die so alle Gefühlsskalen und Nuancen ausleuchten kann, alles Leben in ihre Stimme und Gestalt legen kann, die Musik in sich birgt: vibrierende Sehnsucht, die Leere des Verzichts, Aufbegehren gegen Gewalt und Verrat, die Qual der Vernichteten, deren letzes effektvoll verhauchte Spitzentöne bevor sie ihren Verstand endgültig aufgibt. Lange stand die Rolle von Edgardo zur Debatte in Musikerkreisen: hat er als allerletzter Schlußmann überhaupt noch eine Chance, das Publikum noch einmal zu fesseln, nachdem die Primadonna so glanzvoll dahingesunken ist?  Hyojong Kim schleudert seinen Feinden und Zerstörern seines und Lucias Glück ihre elende Moral entgegen, ungeachtet des Kerkers, der ihm droht. Und später wird er in zerfließender Trauer um die entseelte Geliebte, nun dem Sinn seines Lebens beraubt, selbst den Tod wählen. Eher dramatisch als lyrisch behauptet Kim seine Heldenrolle, die er als gleichwertigen Part neben die vom Komponisten bevorzugte Lucia stellt, wenn er so kraft- und würdevoll, so entschlossen seinen Platz an der Seite der Geliebten behauptet und sich mit ihr im Tode vermählt – sie bereits als Engel begreift und zur dramatisch-tragischen Figur wird. Da gewinnt Hyojong Kims schon wieder Verdiformat.

Aber die Politik war wohl letztlich überall dieselbe, und so mag Italien sich sehr wohl auch mit den schottischen Granden identifiziert und Donizetti für sein fulminant in Noten gesetztes Mythos den Ehrenkranz gewunden haben. Den hatten an diesem Abend alle Mitwirkenden verdient, denn eine solch stimmig  verlaufende Aufführung ist wohl ein Zeichen dafür, dass sich an diesem Premierenabend die Schwingungen zwischen Orchestergraben und Bühne in voller Harmonie übertragen haben.  A.C.

 

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *


7 × = vierzig neun