Wellcome To Hell, B

Koproduktion mit der UdK Berlin
Text und Regie Prof. Peter Lund – Musik Peter Nichael von der Nahmer
Musikalische Leitung und Einstudierung: Hans Peter Kirchberg/Tobias Bartholomeß und Band
Neuköllner Oper, 2018

Im Abseits der großen Politik

Beeindruckende tänzerisch und darstellerisch herausragende Begabungen lassen die harte und oftmals brutal empfundene Realität wie ein Furioso von Höllenqualen mitempfinden. Mit fesselnder Körpersprache, darstellerischer Bühnenpräsenz und schauspielerischer Intensität flackert hier eine Vielfalt jugendlicher Schicksale im Widerschein der Flammenwerfer einer ungleichen Schlacht auf. Manches Feuer verlischt am Ende, der revolutionäre Geist bleibt ernüchtert zurück, Paare verlieren und finden sich neu, Einsichten und Möglichkeiten einer neuen Lebensorientierung lassen sich erahnen.
Da in der Hölle gegenseitige Empathie ausgeschlossen ist, jeder allein gegen das Unverständnis der Welt kämpft, so wie es seiner eigenen politischen und sozialen Weltanschauung entspricht, prallen sie alle ersteinmal an die harte Wand der Wirklichkeit. Sie haben oder sehen keine Perspektive, fühlen und sehen nur die Diskrepanz zwischen oben und unten, reich und arm, hilflos und brutal, Herrscher und Untergebenen, sie sind hetero, homo und lesbisch, vor allem in einem Kokon ihrer schmalen Weltsicht und Lebenswirklichkeit gefessselt bis plötzlich die Erfahrung der realen Schutzlosigkeit ihr Weltbild aufbricht: als die naiv harmlos angezettelte Tanzdemo gegen die Wirtschaftsmächte der europäischen Länder zu einer entgleisten Horror-Veranstaltung wird, weil eine brutale Schlägertruppe die Wut und Angst der Ordnungsmacht herausfordert und in dem unerwarteten Chaos die Polizei jäh alle Übersicht verliert.

Nina Howard hat eine exakte durchkomponierte Choreografie einstudiert, die der starken Musik kongruent ist und alle Darsteller in die großartige, hochgradig rhythmische, immer wieder mit neuen Effekten überraschende Show einbindet, die die Geschichten einiger junger Menschen erzählt, die hier gegen ihr vermeintlich unabänderliches Schicksal wüten oder in Depression und Isolation verfallen. Da ist zum beispiel Mira Keller als angstgeschüttetele Bloggerin Sabine, die von ihrer Partnerin verlassen wurde, und die sich seither nicht mehr unter Menschen wagt, sich hinter ihrem Computer verbirgt und ein imaginäres Dasein abseits aller Lebendigkeit verbringt. Und da spielt Mathias Reiser den jungen Andi, einen sogenanten Autonomen, trotzig und verbissen, ein später Antikapitalist, der das Geld der vermögenden Eltern verachtet und gegen sich selbst und die Gesellschaft wütet; seine Freundin Frieda spielt Lucille Mareen Mayr als noch ziemlich gutgläubig im Leben herumirrende Mitläuferin, die der gefährlichen Entwicklung von Andi keinen Einhalt gebieten kann. Erst als dieser der Verkäuferin Krissy begegnet, die vom Leben an den Rand gedrückt wird, erwacht in ihm so etwas wie ein Instinkt zur Verantwortung und Liebe. Für Andrea Wesenberg als Krissy scheint es ein Kampf gegen den immer wieder auf sie herabrollenden Mühlstein zu sein, sich gegen Ausbeutung und Machtmißbrauch zur Wehr zu setzen. Die Abendschule scheint in weiter Ferne, als ihre Freunde auch noch den Laden verwüsten und der Freund sie mit ihrer Schwangerschaft allein läßt. Sie ist so voller Wut und Heftigkeit und doch zugleich so seelenvoll, dass sie eine ganze Palette von Möglichkeiten zur Identifikation anbietet.
Für Alexander Aula ist die Polizistenlaufbahn seit Kindheit an vorbestimmt – doch der Traum des coolen Sheriffs sieht in der plötzlichen Straßenschlacht anders aus, und er findet sich in seiner Haltung als Vertreter der Ordnungsmacht jäh in einem unerwarteten Konflikt mit seiner Freundin, deren Charme ihrem Kampfgeist unterliegt, alleingelassen. Für Lily, die Medizin studiert, gibt es da keine Kompromisse, und so wird sie den Verlust des Partners mit einer neuen Lebensplanung kompensieren müssen. Dass sie ihren Kommilitonen Friedrich, einen überzeugten Christen, herzlich aber ohne Verständnis akzeptiert, mag sich in ihre schmale Weltsicht einfügen.
Eine hübsche Szene findet im Treffen mit der kleinen Mina statt, die als Schülerin aus Husum zu dem großen Hamburger Demofestival angereist ist und ein tolles Fest erwartet. Tae-Eun Hyon kann ihre asiatische Tradtion nicht verleugnen und liefert sich mit der selbstbewußten Syrerin Lily (Katja Bischof) ein hübsches Klischeematch. Mit so einem Unschuldslamm von der Küste hat es ein cooler Möchtegern-Zuhälter es natürlich leicht, und Didier Borel kann sich da schön fies gebärden bis er einen bitteren Preis für seine Menschen- und frauenverachtende Einstellung bezahlen muss. Denn absolut cool und taff ist Anastasia Troska als Journalistin Kata, die nicht nur den schwulen französichen Referenten austrickst, sondern sich als männerfeindliche Lesbierin ohnehin nicht die Butter vom Brot nehmen läßt – dass sie dabei vereinsamt, wird ihr dabei erst ziemlich spät bewußt. Dem tragenden, schön modulierten Bariton von Loic Damien hätte man gern noch mehr Noten gegönnt. Seine französische Überheblichkeit verschmilzt jäh als er sich dem absolut souveränen spanischen Callboy Ricky beugen muß, dem Pablo Martinez eine vortreffliche Präsenz verleiht. Ein Tänzer, dem man ganz gewiss wieder begegnen wird, der durch ungewöhnliche, kraftvolle Geschmeidigkeit und funkelnde Ausstrahlung besticht. So viele Talente, so viel Spielfreude, so großes Herzblut – man möchte jeden Einzelen dieser vitalen internationalen Truppe im Ensemble festhalten. Doch die Wanderschaft ihrer Karriere beginnt wohl erst jetzt. Viel Glück!  A.C.

A.Cromme

 

 

 

 

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