Angels in America, HB

Oper in zwei Teilen von Peter Eötvös -Text von Mari Mezei
nach dem Schauspiel von Tony Kushner
Uraufführung 2004 in Paris
Theater am Goetheplatz, Bremen, 2023

Bremer Philharmoniker; Musikalische Leitung: William Kelley, Regie: Andrea Moses, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Brigitte Heusinger, Bühne:Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Licht: Norman Plathe-Narr

mit: Martie Smolka (Angel,Voice), Ulrike Mayer (Harper Pitt/Ethel Rosenberg/Hanna Pitt), Constanze Jader/VeraTönjes (Rabbi Chemelwitz/Henry), Michal Partyka (Josef Pitt), Ian Spinetti (Prior Walter), William Ferguson (Louis Ironson), Stephen Clark (Roy Cohn),  Matthew Reese (Belize, Mr.Lies, Woman)  Angels der Nationen und Vokal-Trio mit Martina Parkes, Gabriele Wunderer, Allan Parkes; Statisterie des Theater Bremen.

 Liebe in Zeiten von Aids

Das siebenstündige Schauspiel von Tom Kushner, das vor 29 Jahren ebenfalls in diesem Bremer Theater aufgeführt wurde, hat der ungarische Komponist Peter Eötvös auf zwei Stunden gekürzt und musikalisch mit vielen Stilrichtungen und Instrumenten und damit auch mit zusätzlicher emotionaler Kraft ausgestattet. Es ist für alle, die sich mit dem Stück vorab auseinandergesetzt haben, ein intensives musikalisches und intellektuelles Erlebnis. Aber es ist keine leichte Kost, denn die Eigendynamik der Homosexualität – noch vor gar nicht langer Zeit als Makel und mit dem Auftritt des schrecklichen Aidsvirus zu einer nicht nur persönlichen Katastrophe explodiert – schwappte damit auch weltweit als Angstwelle über alle Länder. Oft auch durch Unkenntnis der Ursachen und Auswirkungen wurde nicht das Virus selbst bekämpft, sondern die infizierten Menschen geächtet und isoliert – bis eine globale Aufklärungskampagne zusammen mit neuen Forschungsergebnissen positive Ergebnisse in der Eindämmung der Krankheit brachte.

Kushner versetzt sein Stück in das Jahr 1985, als noch weithin in Amerika Unwissenheit und Naivität, auch Unbedachtheit und tödliche Sorglosigkeit um dieses Virus herrscht. Aber die damit einhergehende Tragik einer ohnehin wenig akzeptierten gesellschaftlichen Gruppe, in weiten Kreisen noch als Außenseiter gebrandmarkt, rüttelte die Nation auch durch dieses Schauspiel wach: Die Lebensgeschichten von fünf Männern überkreuzen sich und durchdringen einander: Prior Walter (der Name ist doppelbödig, da auch der Vorsteher einer klösterlichen Gemeinschaft als Prior benannt wird) ist an Aids erkrankt, und es geht ihm nicht gut. Aber sein Freund Louis erträgt die Qual und die Angst in der Begnung mit dem Tod nicht und flieht in eine andere Beziehung mit dem mormonischen Anwalt Joe, der seine Sehnsucht nach einem männlichen Partner bislang noch vor seiner Ehefrau verbarg. Allerdings sehr schlecht, denn Johanna ahnt, dass hinter der kühlen Geschäftigkeit und des sexuellen Desinteresses ihres Mannes etwas anderes steckt als reine Überarbeitung. Ihren Kummer bekämpft sie seither mit Morphium. Dass allein diese vier Personen ungemein leiden und die Musik sich ihrer so tief ergreifend annimmt, ihre Seelenpein sich in ihrem Gesang verlebendigt und ihre Not mit großer existenzieller Erschütterung einhergeht, offenbart sich in der intensiv ausgearbeiteten visuellen und musikalischen Darstellung aller Schicksale.

Auch der Krankenpfleger Belize ist eine ebenso mitfühlende und mitleidende Person, die sich in diesem Kreis in seine engelsgleiche Rolle gefunden hat trotz der allgemein herrschenden panischen Angst, sich bei den Kranken anzustecken. Nicht integriert ist die Gegen-Figur, die Kushner mit absolutem Grimm und genauester Kenntnis, ohne Rücksicht zu nehmen, eingefügt hat: die Figur des Schwulenhassers Rechtsanwalt Roy Cohn, der von Stephen Clark so heftig und brutal gesungen und gespielt wird, dass tiefe menschliche Abgründe sichtbar werden. Denn dieser Mann war real, ein skupelloser Anwalt, Berater und Wahlmanger von Donald Trumpf und gefürchtet von allen Mitarbeitern und Menschen, die in seine Fänge gerieten. Auch er schlief mit Männern, bestritt dies vehement, redete von Leberkrebs und starb  doch an Aids. In dieser Person überträgt Eötvös alle Grausamkeit einer blinden, intoleranten Gesellschaft. Bedauernswert und tief anrührend ist der Konflikt des jungen Anwalts Joe, der an der Unfähigkeit, seine Ehe zu halten ebenso leidet wie an der Wortlosigkeit, mit der er bei seiner unsensiblen agilen Mutter vergebens Halt und Hilfe sucht, innerlich zerbricht. Michal Partyka trifft diesen Charakter in seiner zaghaften Zwiespältigkeit, der übrigens in der TV Serie “Ku’damm 56″ in der Figur des Anwalts Wolfgang von Boost von August Wittgenstein ähnlich dargestellt wird. Bemerkenswert.

Und was sollen nun diese gefallenen Engel mit ihren kleinen und großen Flatterflügeln und ihrem pittoresken Outfit? Ihr Erzengel ist Marie Smolka, und sie bringt die Männer, vor allem den ihr anvertrauten Prior nicht nur zur Verzweiflung, sondern auch zu einem ekstatisch orgastischen Erlebnis. Die Musik überschlägt sich in dieser Szene, und Engel wie Menschen geraten in einen wahnhaften Rausch, während Prior nicht eigentlich weiß, wie ihm geschieht. Aber er ahnt es dann doch: denn er fühlt sein Leiden nicht mehr, sondern nun pure Lebenslust, ein unbändiges Verlangen danach, dem Tod zu entkommen, sich den Engeln zu verweigern. Denn diese, erzkonservativ, wahrscheinlich auch Mormonen, wollen die Männer von der Last ihrer homoerotischen Lust im Sinne der puritanischen amerikanischen Gesellschaft befreien und Prior als Propheten einer gereinigten Menschheit in den Engelsreigen aufnehmen.

Prior wird die Krankheit überwinden und der amerikanische Gott die Menschheit in ihrer Vielfalt am Leben erhalten. In einem Kaleidoskop von Jazz, Rock und Musicalelementen, Alltagsgeräuschen und irisierenden Klangflächen sind verständlicher Sprechgesang vorwiegend bei den männlichen Partien, wie auch hinreißende Koloraturen bei den Engeln, begleitet von “sphärisch funkelnden” zahlreichen Instrumente (Tonband- und elektronische Einspielungen, unter anderem auch ordinäre Hupen!) eingebunden. Der hoch qualifizierte amerikanische Pianist und Dirigent William Kelly führt das Bremer Orchester farbig und facettenreich, zügig und temperamentvoll in absolut stimmiger Kongruenz mit allen Sängern und Musikern, die mit dieser Einstudierung wohl ihre bisher größte Herausforderung erlebten.

Anschauen, ein ganz besonderes Musik-und Theatererlebnis! A.C.

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