Werther, OL
Oper von Jules Massenet
Drame lyrique in drei Akten und vier Bildern
Libretto von Georges Hartmann/Paul Miliet/Èdouard Blau nach dem Roman “Die Leiden des jungen Werther” von Johann Wolfgang Goethe
Oldenburgisches Staatstheater, 2025
Musikalische Leitung: Vito Christofano; Regie: Kai Anne Schumacher, Dramaturgie: Antje Müller; Bühne: Dominique Wiesbauer, Kostüme: Valerie Hirschmann, Kinder- udn Jugendchor: Marija Jokovic; Licht: Steff Flächsenhaar
Werther: Paride Cataldo (als Gast), Charlotte: Anna Dowsley, Sophie, ihre Schwester: Penelope Kendros, Albert: Arthur Bruce, Le Bailli: Seungweon Lee, Schmidt, ein Engel: Seumas Begg, Johann, ein Engel: Irakli Atanelishvili; Brühlmann: Adreas Lütje, Käthchen: Daniela Köhler
Oldenburgisches Staatsorchester sowie der Kinder- und Jugendchor des Oldenburgischen Staatstheaters

Foto: Stephan Walzl
Das Leben ist geht weiter – manchmal auch heiter
Werther – der verzweifelt liebende Jüngling, der im Hause der Freundin gern gesehener Gast ist und dort wiederum erlebt, wie liebevoll dieses junge Mädchen mit den ihr anvertrauten Geschwistern nach dem Tod der Mutter umgeht, während der Vater sich dem Alkohol verschrieben hat. Charlotte aber ist schon mit einem anderen Mann, mit Albert, verlobt, und dieses Bündnis kann sie als letzen Wunsch ihrer Mutter nicht lösen. Charlotte ist eine junge Frau mit hohem Anspruch an sich, an ihre Moral und Integrität, aber auch sie ist verliebt in den jungen Mann, in Werther, der seine Emotionen kaum zu zügeln versteht. Die erste große Liebe. Der vielseitig gebildete und talentierte Dichter und Schrifsteller Johann Wolfgang Goethe hat hier nicht nur eigene Erfahrungen verarbeitet, sondern ist als Künstler auch ein Seelenkenner insgesamt und ein Beobachter bürgerlicher Engstirnigkeit ohnehin.
Es ist ein Drama, das 1774 (Goethe) und 1892 (Uraufführung der Oper) leider eine Massenhysterie unter jungen Leuten entfachte und animierte, es Werther gleichzutun, um unerwiderter Liebe willen den Freitod zu suchen. Ein Skandal, natürlich.
Aber es ist auch ein tiefgreifendes Drama, das Liebe, Leidenschaft, Moralische Konsequenzen immer wieder verstörend aktuell berührt, wie der bedeutende Kritiker Reich Ranicky einst wusste: Es gibt nur Thema auf der Bühne: Liebe und Tod.
Dass in Oldenburg jetzt das Staatstheater mit einer zunächst äußerst munteren und bunten Mannschaft aufwartet, erheitert zunächst und stimmt froh ( es entwicklet sich ja auch auf Weihnachten hin); denn die Regisseurin präsentiert mit ihren Bühnen- und Kostümbildnerinnen echten französischen Chic bei ihren unterhaltsamen Figuren. Die beiden Schwestern sind in eleganten Kostümen neuester Mode gewandet, die Kinder hüpfen in kunterbunten Kleidchen herum, der Hausherr aalt sich ungezwungen im lässigen Hausmantel und die beiden Nebenbuhler: der Verlobte Albert im lächerlich grün karierten Anzug, was Biederkeit und wenig Geschmack verrät, während der herumirrende ratlose Werther zunächst flott in Jeans und Jäcke und verwegenem Hütchen auftritt, noch als Charlotte verliebt umschwirrender Jüngling, später nach seiner zwecks Läuterung (von der Liebe) verordneten Verbannung schon eher seriöser, jetzt stechen Stimmung und Stimme hervor.
Das Bühnenbild ist von fantastischer Kunst: eine dunkle Bühne zwar, doch dank der farbfrohen Maskeraden der Kinder, die bereits im Juli Weihnachtslieder einüben und ihre Lebenslust kaum zügeln können, ein beruhigender Kontrast. Die Öffnungen zur Außenwelt werden durch Leuchtröhren als Türrahmen bewegt. Übrigens von zwei skurril anmutenden, ein bisschen verwahrlosten Figuren, die, beflügelt, Licht und Buchstaben herbeizaubern und fortwischen können. Begleitpersonen eines Spiels, das sie meinen in den Händen zu haben, aber eine Macht, die größer ist als sie, bestimmt Letzen Endes doch, wer gehen muss. Nicht, wie im ersten Bild fälschlich prophezeit, der grün karierte Albert. Die beiden gefallenen Engel müssen ihn, ziemlich verunsichert, wieder ins Leben zurücklaufen lassen.
Als Himmelsmacht und -dach schwebt über dem Geschehen eine spiegelnde Fläche, die sich hebt und senkt, ebenfalls mit Leuchtkraft versehen, in deren Mitte sich ein schimmernder mondartiger Kreis zuweilen öffnet und Regen oder Glimmer herunterrieseln lässt. Zuletzt regnet es roten Sand, der für alles stehen wird: einen inneren seelischen Raum, in dem Charlotte am Ende die Briefe Werthers liest und ihrer letzten Hoffnung auf eine mögliche Erfüllung ihrer gegenseitigen Liebe, sich selbst kasteiend entsagen wird.
Der Auftakt ist entzückend und verwirrend und signalisiert aber zum einen die fröhliche Unbeschwertheit der Kinder, die von den beiden älteren Schwestern aufgezogen werden und die noch völlig unschuldige Verliebtheit Charlottes zu Werther, deren Tiefe sie noch nicht zu erkennen vermag. Dass der alte Vater Bacchus` bester Freund ist, verrät häufig das Display oberhalb der Bühne.Er gehört wohl zum französischen Mentalität… ist vielleicht ein Merkmal von früher Vereinsamung und Hilflosigkeit, man kann es lächerlich oder gütig betrachten. Wie der Zuschauer ja überhaupt die Möglichkeit hat, emotional so mitzuschwingen, wie ihm zu Mute ist. Und da ja eigentlich jeder die Tragik des Werther kennt, tut der muntere Auftakt zunächst dem dramatischen Fortlauf noch keinen Abbruch. Werther begreift auch erst allmählich die Realität, denn er ist ein junger, sehr junger Mann, der die Gepflogenheiten der gesellschaftlichen Lebens noch nicht erfasst hat. Und dass seine Charlotte sich jäh als verlobt zeigt und der Verlobte auch wieder sehr lebendig ins Bild rückt und keinen Zweifel an seinem Besitztum aufkommen lässt, ist für Werther irgendwie nicht real und könnte im Übrigen doch schon auch Mitleid für die Frauen alter Zeiten wecken! Werther muss sich zurückziehen, darf aber zu Weihnachten zurückkehren. Das hat ihm diese ja immerhin befreundete Familie zugesichert. Und er wird kommen, sehnsüchtig von der leidenden Charlotte erwartet, um nun mit voller Glut und Leidenschaft um sie ringen.
Musikalisch ist das ein großartiges Werk, eigentlich noch der Romantik ganz zugehörig, aber in der Orchesterausformung und Führung von Vito Christofano passiert eben exakt das, was Massenet auch komponieren und darstellen wollte: Gefühle vollster Kraft und Innigkeit, von den verschiedenen Instrumenten gelenkt, gleitet, herausgefordert, angekündigt – man weiß noch bevor die Bühne etwas verrät, was geschehen wird: die Musik setzt die Töne! Und so werden Stimmungen und Handlungen passend kontrastiert und formiert, sensibel aufgefangen und dramatisch hoch gehoben, ohne destruktiv (oder übertrieben)zu wirken. Es sind menschliche Sehnsüchte und Enttäuschungen, die hier widergespiegelt werden im Abglanz einer großartig an- und abschwellenden musikalischen Genialität. Das Motiv bleibt von Anfang an dasselbe: “Scéne des Adieurx“ Bilder des Abschieds, im Duett von Werther und Charlotte bereits im zweiten Akt als Werther zum erstenmal fortgehen muss, dann im 3.Akt als Vorspiel, in dem Charlotte in den Briefen die Macht ihrer Liebe erfährt sowie in verschiedenen Variationen und ombinationen, schließlich zum Höhepunkt ihres letzten Duetts.
Für alle Sänger und Sängerinnen, Kinder und Helden, für die verrückten Engel wie für den köstlichen Part von La Baailli, vor allem aber für Paride Cataldo passend angelegte Partien: sein wunderbar warmer, tief angesetzter weit klingender Tenor umfasst die große Skala seiner überbordenden Gefühle, während Anna Dowsley Charlottes Leidenschaft, Verzweiflung und Hingabe im Verzicht in allen Facetten ebenso kraftvoll wie erschütternd singt. Aber das Schicksal entscheidet anders. Werther verschwindet im Dunkel, nicht ohne sich tröstend zu verabschieden, denn es ist Weihnachten, und die Christen verkünden ihre Vorstellung vom Tod und der Wiederauferstehung. So ist Werther also nicht wirklich vergessen, und obwohl die am Boden zerstörte Charlotte sich noch nicht wirklich auf ein weiteres Leben in ihrem Familienkreis einlassen kann, zeigen Goethe, Massenet und diese Inszenierung, wie man weiterleben kann, wenn man muss.
An diesem Abend eine wohl verdiente, lange herzliche Beifallsbekundung. A.C.