Vassa Shelesnova
von Maxim Gorki
Berliner Ensemble
Regie und Bühne: Manfred Karge, Kostüme: Jessica Karge
Musik: Alfons Nowacki
Gesellschaftsspiel aus böser alter Zeit
Der Untergang ist ihnen ziemlich sicher – denn sowohl die feudalistische Gesellschaftsstruktur als auch die privaten Hierarchien sind in den revolutionären Aufbruch geraten. Nur, dass die betroffene großbürgerliche Klasse es einstweilen noch nicht bemerkt hat oder – zumindest- ihn mit der ihr eigenen Blindheit ignoriert. Vassa Shelesnova (die Eiserne) ist eine von ihnen, eine Unternehmerin, gehärtet wie Stahl – geprägt durch persönliche Schicksalsschläge und vorbestimmt durch alte autokratische Strukturen. Für Swetlana Schönfeld eine gigantische, eine Paraderolle, die sie mit so viel persönlicher Verve und Wut entfaltet, so dass sie nicht nur ihren Mitspielern schier den Atem raubt. Die allerdings sind auch schwach angelegt, wie es der Blick auf eine degenerierte Familie bei Gorki wohlmöglich erfordert. Der proletarische Schriftsteller hat in seinem Drama, das er nach der gescheiterten Revolution von 1905 schrieb, noch nicht die charakterliche Feinzeichnung seiner Personen erreicht wie beispielsweise ein psychologisch tiefgründig analysierender Anton Tschechow oder der episch weit ausgreifende Fjodor Dostojewski.
Gorki sollte dies Stück allerdings in der Stalin-Ära umschreiben, verweigerte dies jedoch und verfasste statt dessen kurz vor seinem Tode eine gänzlich neue Version, in die er eine junge Revolutionärin einfügte. Am Berliner Ensemble wird jetzt – im Gegensatz zu der derzeitigen Münchner Inszenierung – die spätere, allerdings vom Regisseur selbst noch verkürzte Fassung gespielt, die denn auch an ihrer Verknappung zu leiden hat.
Zwar sind die Personen haarscharf modelliert. Und die Vassa von Frau Schönfeld lässt keinen Zweifel an ihrer Härte und Unbarmherzigkeit, mit der sie ihre Umgebung tyrannisiert, in tödliche Abhängigkeit zwingt. Nur ganz zu Beginn erlaubt sie sich einige weiche Züge – nämlich als sie ihren kleinen Enkelsohn Koljar aus der schwülen und bedrohlichen Familiengruft in eine andere Umgebung verabschiedet und ihn in russischer Sprache (gute Idee des Regisseurs) zärtlich verabschiedet. Wie wir später erfahren, ist er – in kluger Weitsicht und Beurteilung der familiären Lage – als der Erbe ihres Imperiums vorgesehen.
Denn die ist wirklich desaströs: Denn Vassas Bruder Pronchor, ein leichtlebiger, verhinderter Musikant und nun die Inkarnation des gewissenlosen alkoholischen Verführers die Jugend im Hause gefährdet und das von ihm geschwängerte Dienstmädchen in den Suizid treibt, und auch ihr liederlicher, verkommener Ehemann, der Reeder und Unternehmer, droht mit seinen Exzessen, die die Normalität und Legalität längst überschritten haben, Familie und Firma in den gesellschaftlichen und damit auch materiellen Ruin zu treiben. Dieter Montag ist ein superfieser Ehemann und Roman Kaminski ein erschreckend gezeichneter, wild verkommener Säufer-Bruder.
Vassa weiß, was zu tun ist, wie sie es immer mit Unnachgiebigkeit befiehlt. Der Ehemann gehorcht und nimmt sich das Leben, um die Schande abzuwenden, die körperbehinderte Tochter bleibt aufmüpfig und dem Schnaps als einziger Abwechslung in ihrem langweiligen Leben verfallen; dies jüngere, leicht infantile Schwester liebt blind und scheu die strenge Frau Mama, und der angestellte Jurist bleibt ebenso erfolg- wie farblos. Doch dubios und von einer zeitlos verdorbenen Welt sind Vassas Sekretärin und der scheinbar so lustige Bursche für Haus, Hof, Garten und Gefährt. Er mimt den Hanswurst und genießt damit Narrenfreiheit. Wer über die gouvernantenstrenge Sekretärin Anna nicht vom ersten Moment an Schlimmes erwartet, müsste allerdings blind sein.
Wie Manfred Karge überhaupt das Ganze recht einsichtig, konsequent und konservativ in einen halbdunklen, von verblichener Eleganz kündenden Raum gestellt hat, mit einem kleinen Schreibtisch und blassblau bezogenem Gestühl vor einer Wand, die zum Auftritt und Abgang dient und hinter sich so mancherlei im Dunklen verbirgt.
Aus dem Rahmen der Familie, die sich krampfhaft an Visionen festzuhalten scheint, fällt die burschikose Schwiegertochter und Kommunistin Rachel, die den todkranken Sohn Vassas ins Exil begleitete, und die nun jäh mit frustriert-herrischem Habitus ihren Sohn von Vassa zurück fordert. Marina Senckel spielt diese Frau eher marionettenhaft, wie mechanisch von irgendwoher gesteuert, denn mit überzeugender Leidenschaft.
Was sich in ihrem politischen Rededuell mit Vassa wie überhaupt in der stringenten Inszenierung an Dialogen abspielt, ist das eigentlich Spannende; denn wie persönliche, alte und neue Weltansichten aufeinander prallen, das ist, als ob nicht nur Flammen lodern und Funken stieben, sondern als ab ganze Kirchbaumwälder auf einmal abgeholzt werden, als ob verbale Kanonen das Haus umtosen und es nur noch Frage einer absehbaren Zeit ist, wann hier alles einbricht und das schön gehütete Imperium zum Einsturz bringt.
Vassa wird den Untergang glücklicherweise nicht mehr erleben, den infamen Raub ihrer Angestellten ebenso wenig wie die nun in tiefste Armut gesunkenen Familienmitglieder. Gorki lässt ein gütiges Schicksal walten, wie er und Karge diese Geschäftsfrau überhaupt trotz all ihrer Unerbittlichkeit und verbalen Brutalität nicht ins Abseits aller Sympathie verbannen. Sie war eine Frau aus einer anderen Zeit – sie hätte, wären ihr Stolz und ihre Engstirnigkeit nicht ihr Hindernis gewesen, eine der größten Frauen in einer neuen Geschichte gewesen oder, hätte es sein können: eine menschenwürdige Behandlung und Entlohnung der Werftarbeiter und der Angestellten und eine konsequente Härte der degenerierten Familie gegenüber vorausgesetzt (falls die blutige Revolution sie nicht kurzerhand überrollt hätte). Aber die Zeit war nicht reif für verantwortungsvolle gesellschaftliche und politische Veränderungen. Die Frage, ob sie es denn nun in diesem großen, zu oft und gnadenlos gedemütigtem Volk hundert Jahre geschafft später hat -wäre vielleicht der Ansatz für eine modernere Inszenierung gewesen! A.C.