Anna Karenina, HB
Drei Atmosphären – Uraufführung
von Thomas Kürstner und Sebastian Vogel
Text von Armin Petras nach dem Roman von Leo Tolstoi (1873 bis 1878)
Theater am Goetheplatz, Bremen, 2013
Musikalische Leitung: Clemens Heil; Regie: Armin Petras, Dramaturgie: Ingo Gerlach, Bühne: Susanne Schuboth, Kostüme: Karoline Bierner, Chor: Daniel Mayr, Kinderchor: Jinie Ka, Choreographie: Jaqueline Davenport, Video: Rebevcca Riedel, Licht: Chrisitan Kemmermüller. Es spielen die Bremer Philharmoniker; Chor und Kinderchor des Theater Bremen
mit: Martin Baum, Sybille Bülau, Max Geburek/Lukas Schade, Christoph Heinrich, Nadine Lehner, Nathalie Mittelbach, Nerita Pokvytè, Hubert Wild und Patrick Zielke
Gewitter müssen leuchten
Vor der Wandkulisse eines abwechselnd im Regengrau gehaltenen Hafenbildes, einer Baugrube und eines Birkenwaldes, von dessen Bäumen die Tropfen unaufhaltsam rauschen, ergibt sich sofort die beabsichtigte, emotional einstimmende Tristesse, die unglückliche Verliebtheit, begrenzte Leidenschaft und lebenslange Enttäuschung begleiten wird.
Musikalisch zwischen Oper, Oratorium und Musical angelegt, wird die Geschichte der schönen Russin Anna Karenina erzählt (Das Buch wurde 1877/78 veröffentlicht und handelt von Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des19. Jahrhunderts) und in sehr freier Bearbeitung in ein gesellschaftlich exemplarisches, expressives Drama verwandelt.
Musikalisch erinnert die mit großen Spannungsbögen und überraschenden Effekten der sich noch in harmonischer Klangfolge bewegenden Komposition an die epischen Opern von Benjamin Britten. Auch hier werden Geschichten zeitübergreifend und doch in ihrem historischen Kontext in ein lebendiges Bühnenstück umgesetzt und die Sänger mit extremer Stimmführung konfrontiert: Die Soprane sind hoch und schneidend, scharf und punktgenau, Bögen und Schleifen dienen nicht der Verzierung, sondern der Akzentuierung. Es ist ein faszinierendes musikalisches Erlebnis, die zugleich dramatisch und exakt modulierende Nerita Pokvytyè als die von Wronkys verschmähte Kitty zu erleben, die schließlich der ungeschickten Liebeswerbung des Gutsbesitzers Lewin nachgibt, dem Christoph Heinrich ausdrucksvoll eine verzweifelte Tiefe und die Regie eine bildhaft überbordende Symbolik verleiht. Ob er weiß, dass Kitty nicht ihn liebt? Den mal himmelhoch jauchzenden und dann wieder abgrundtief traurigen Teenager wie eine hilflose Krabbe in flamingofarbenen Tüll zu stecken, ist ein plakativer Einfall und kontrastiert fast karikierend mit der eleganten Anna, in die sich Wronsky bereits beim ersten Zusammentreffen auf dem düsteren Bahnsteig verliebt hat. Dass eine große Glühbirne auf dem Ball zerspringt als das Paar eng aneinndergeschmiegt der kleinen Kitty endgültig das Herz bricht, gehört ganz treffsicher zur “Atmosphäre”…
Auch ihre Mutter, die stolze Fürstin Dascha /Nathalie Mittelbach, ist mit ihrem zwar lebendig agilen, aber stets untreuen Gatten Stefan kreuzunglücklich. Martin Baum gibt einen selbstbewußten, strahlenden, zuweilen etwas verkasperten Schwerenöter ab, der die Damen mit dem wunderbaren song “You are my lady” zu umgarnen versteht, und somit ein ungutes Vorbild für Kitty abgibt, die romantisch an die große, endlos währende Liebe glauben möchte.
Und Karenin, Annas sehr viel älterer Ehemann? Patrick Zielke erhält bei Armin Petras die gleiche Sympathie wie alle Protagonisten. Er ist abgrundtief verzweifelt, denn Liebe, Beruf und Glück gehen den Bach hinunter, die Neider sitzen schon auf der Schwelle, die bösen Zungen geifern ihn ins Abseits: von der Frau betrogen und verlassen, geschieden, beruflich ist die Karriere am Ende. Er klammert sich an den Jungen, steckt ihn ín die Kadettenschule und weist ihm einen gradlinigen, lieblosen Weg in die Zukunft. Ohne Frage nimmt man diesem Karenin sein Leid ab. In seiner ihm zugedachten “Atmosphäre” ist alles stimmig in Zeit und Raum.
Auch Graf Wronsky ist nicht der leichtlebige Bonvivant, der alle Frauen umgarnt und auf ein reiches Liebesleben verweisen kann. Er ist, wie bei Tolstoi beschrieben, eher ein “schnell gelangweilter Überkämmer mit Dauerzahnschmerz”. Hubert Wild zeigt einen zurückhaltenden Einzelgänger, der eher beharrlich, denn verführerisch Annas Liebe erobert. Und für Anna vereinen sich der sinnliche Reiz der Liebe mit der Möglichkeit eines abwechslungsreichen Lebens an der Seite eines jüngeren Mannes. “Ich bin so stolz, dass ich liebe” sagt Anna, einer unbestimmten Lebenssehnsucht folgend, die ein Vakuum ihres bisherigen Daseins auszufüllen verspricht. Wronsky ist das Angebot, das ihr die Erfüllung ihrer Träume verspricht. In dieser Vorstellung der Rollenzuteilung gibt sich Hubert Wild mit tenoraler harmonisch-charaktervoller Modulationsfähigkeit sensibel und nachdenklich, als er das Schwinden seiner Liebe zu Anna noch nicht wahrhaben will. Und Nadine Lehner scheint fast zu leuchten – mit phosphorizerender Strahlkraft breitet sie ihren inneren und äußeren Kampf um Selbstbestimmung, Liebe und Glück und Mutterschaft aus- – zuletzt in schmerzvoller Verwirrung, als sie einsehen muss, dass sie ein begrenztes Über-Glücklichsein gegen eine statuarische Familiengemeinschaft eingetauscht hat. Auch Tolstoi fand bereits, dass der Anspruch auf immerwährendes Glück eine Fiktion sei. Und so verschmilzt der Glanz der Sonnenstrahlen mit dem zeitlos sich am Ufer ausrollenden grauen Wellen.
Ein unerwartet variationsreiche Inszenierung und ein klangmächtiges musikalisches Erlebnis. A.C.
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