Satyagraha, OL

Satyagraha = Festhalten an der Wahrheit – Gandhi in Südafrika
Oper in drei Akten von Philip Glass, Libretto/Regiebuch: Philip Glass und Constance de Jong.
In sanskritischer Sprache mit deutschen Übertiteln, Oldenburger Erstaufführung
Oldenburgisches Staatstheater, 2016

Opern- und Extrachor unter der Leitung von Thomas Bönisch mit der Statisterie des Ol Staatstheaters; Ol  Staatsorchester unter der Leitung von Carlos Vázquez; Inszenierung: Andrea Schwalbach, Ausstattung: Anne Neuser, Dramaturgie, Annabelle Köhler
mit: Timothy Oliver, Anna Avakin, Melanie Lang, KS Paul Brady, Tomasz Wija, Valda Wilson, Hagar Sharvit, Ill-Hoon Choung, Alexander Murashov 

Mythos und Gegenwart

Mahatma Gandhi

Mohandas Karamchand Gandhi, genannt Mahatma (Große Seele) Gandhi, 1869 im heutigen Bundesstaat Gujarat als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren, geht nach seinem Jurastudium in London 1893 nach Südafrika und erlebt in Pretoria zum erstenmal die Auswüchse des Rassismus am eigenen Leib. Vielfach philosophisch und religionswissenschaftlich interessiert, wird er zum Anwalt der unterdrückten indischen Minderheit in Pretoria und gewinnt die Unterstützung der Frau des Polizeipräsidenten, die ihn vor der gewaltbereiten Obrigkeit zu schützen vermag. Ghandi bleibt in Südafrika und kämpft bis zu seiner Rückkehr nach Indien 1914 für sein Ideal des “zivilen Ungehorsams” mit absoluter Gewaltlosigkeit, von dem er fest überzeugt ist, dass es gleichermaßen zur Freiheit des Individuums wie für die ausgegrenzte – in Indien kastenlose – bitterarme Bevölkerung führt.
Die Faszination, die Gandhi als Vorbild für die Menschen in aller Welt, vor allem aber für die Massen in Indien ausübte, ist in vielerei Dokumentarsendungen und großartigen Verfilmungen lebendig gehalten. Aber er hatte auch Feinde, religiöse und politische Widersacher, von deren Anhängern er 1948 ermordet wurde.

Arjuna und Krishna
Arjuna (Sanskrit, m., अर्जुन, [ʌɽʤunʌ]) ist eine der wichtigsten Heldengestalten im indischen Epos Mahabharata. Er ist Krishnas Dialogpartner in der Bhagavad Gita, dem vielleicht am weitesten verbreiteten heiligen Text des Hinduismus. Wer Indien und natürlich nun speziell diese Oper und eben Gandhis zielstrebige Zähigkeit, der Welt das Beispiel einer gewaltlosen Revolution vor Augen zu führen, begreifen möchte, kann sich in die Epen des Hinduismus versenken, aber es genügt auch, das informative Programmheft des Theaters sowie die jeweilig vor Beginn des Abends angebotene Einführung zur Hilfe zu nehmen.

Auf der Bühne
Eine einfallsreich gestaltete Bühnenausstattung (angedeutete Wälder, Wände, Barrieren aus Bambusstangen) und eine kongruente Handlungschoreografie lassen die Inszenierung mit ihren philosophischen und religiösen Texten, die leider nicht immer glücklich übersetzt sind, nach und nach in die tieferen Dimensionen gleiten und das zuweilen alle Religionen verbindende Wertesystem der Bhagavad Gita transparent werden. Die berauschende, nachhaltig wirkende “Minimal-Musik” des amerikanischen Komponisten, der dieses Werk erstmalig 1980 an der Oper Stuttgart aufführte, unterstreicht in tiefen und weit ausrollenden dunklen Wellen mit an-und abschwellenden, nur scheinbar gleichtönig, eher suggestiv sich einpeitschenden Klangfolgen die Worte und Werte des golden glänzenden Prinzen Arjuna und des blauhäutigen Gottes Krishna als Maßstab für das richtige ethische Handeln eines vorbildlichen Herrschers. Auf der Bühne geben sich zunächst Arjuna und Krishna ein Wortduell, als Arjuna sich in der schweren persönlichen und politischen Entscheidung auch gegen Verwandte und Freunde stellen muss. Der hier spielerisch und musikalisch in den Vordergrund gestellte Chor erscheint im weiteren Verlauf als graue Anzug- und Kostümgesellschaft, eben farb- und phantasielos, gnadenlos machterhaltend und hemmungslos konsumorientiert.

Timothy Oliver wirkt als ein zurückhaltender, nachdenklicher Gandhi, der sich zwar nicht scheut, mit kräftigem Nachdruck alle Missstände anzuprangern, dafür auch persönliche Konsequenzen auf sich zu nehmen, aber niemals aufhört, Mitstreiter um sich zu sammeln, die seine Ideale auf einer gemeinsamen, weltweit reichenden religiösen und spirituellen Ebene mit zu tragen bereit sind. In seinem weißen Arztkittel bleibt er in dieser Bühnenversion noch ohne jenes Charisma, das ihn später, nach Indien zurückgekehrt und die Massen aufrüttelnd, umgibt. Anna Avakian, Melanie Lang, Valda Wilson sowie Hargar Sharvit als politische verwandte Freundinnen machen stimmführend die brodelnde und sich im gellenden Aufschrei artikulierende unterdrückte Masse in aller Welt hör- und fühlbar. Und nach Götterart üben sich Ill-Hoon Choung als Lord Krishna und Alexander Murshov als Arjuna in vornehmer Zurückhaltung, wobei auch das Blut in der Schlacht nur dezent den heldenhaften Tod andeutet – während sich Kammersänger Paul Brady als Mr. Kallenbach und Tomasz Wija als Parsi Rustomji als Verteidiger ihrer Wirklichkeit unmissverständlich an den Sektkelchen der alten Gesellschaft festhalten.

Kein Friede auf Erden
Die Lebensform, die göttlich gesetzte Richtlinien von ihren menschlichen Untertanen verlangen, ist, so lebte es Gandhi vor, nur mit hohem Maß an Verzicht,der HInwendung zum Asketentum,zu genügsamer und enthaltsamer Lebensführung und mit umfassendem Verzicht auf moralische, intellektuelle und materielle Überlegenheit zu leisten. Das christliche Gebot der Nächstenliebe kommt weder im Hinduismus noch in anderen Religionen und Ideologien vor; es geht hier auf in einer Vielzahl von Geboten für eine Idealgesellschaft, in der ein solches überflüssig wäre. Richtiges Handeln erfordert – nach dem Geheiß der höchsten indischen Gottheit Krishna: Selbstaufgabe, Verzicht auf Rache, ein durch und durch gütiges, zugewandtes Wesen und vieles andere mehr – aber dennoch Kampf gegen die Ungläubigen, die sich von diesen Idealen abgewandt haben!

Gandhi aber lehnte jede Form von Gewalt und Rache ab. (Seine wiederholten Gespräche mit dem englischen Vizekönig und seiner Gattin, in denen er sich stets gegen eine Teilung Indiens aussprach, sind von prophetischer Bedeutung)! Doch heute, bald ein fast ein Jahrhundert später, scheint wieder das alte Prinzip der alten Götter zu gelten, den bewaffneten Kampf für das Gute zu rechtfertigen: Das wiederum gibt Raum für ein Feindbild, für gnadenlose Kriege, die Leid und Hass mit sich bringen, dem Sieger aber irdisches “Heil” und dem in seiner ehrenvollen Sache gefallenen Besiegten das Paradies   versprechen. Um diesen zu allen Zeiten zerstörerischen Widerspruch aufzulösen, kann diese Form der politisch-religiösen, atmosphärisch dicht und eindringlich musikalisch begleiteten Bühnenversion als Gedankengerüst viel Raum für Diskussionen bieten. A.C.

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