Das weite Land

von Arthur Schnitzler
Hans Otto Theater Potsdam

Regie: Tobias Wellemeyer, Bühne: Iris Kraft, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Marc Eisenschink,
Dramaturgie: Ute Scharfenberg

mit: Wolfgang Vogler, Franziska Melzer, Andrea Thelemann, Eddie Irle, Bernd Geiling, Rita Feldmeier, Nwele Jung, Peter Pagel, Meike Finck, Jon-Kaare Koppe, René Schwittay, Simon Brusis, Jan Dose, Michael Schrodt, Sabione Scholze, Luise Schade, Georg Uecker, Justus Isermann

 

“Der Seele dunkle Pfade”

Irving Stone war es, der 1956 in seinem Buch „Der Seele dunkle Pfade“ die Komplexität der menschlichen Psyche anhand der Biografie Sigmunds Freuds und seiner Psychoanalyse in einem populärwissenschaftlich faszinierenden Roman beschrieb. Doch bereits 1906 wusste Arthur Schnitzler, wie schon viele berühmte Schriftsteller und Philosophen vor ihm, wie ungeheuer vielfältig verschlungen die Gründe menschlichen Verhaltens sind und formte seine Erkenntnisse zu literarisch ewig gültigen Bühnencharakteren.
Das „fremde Land“ offenbart die “dunklen Pfade”, die Menschen aus der Tiefe ihres Unbewussten beschreiten, um sich und anderen Schaden zuzufügen. Das könnte man durchaus als scharf skizzierte Gesellschaftsanalyse inszenieren –  Schnitzler selbst bezeichnet sein Werk sogar als “Tragikomödie”! Doch leider lässt diese Inszenierung beide Aspekte vermissen. Es mangelt ihr an Tragik wie an Komik, an Gewürzen jeder Art. Sie fesselt nicht, fasziniert nicht, stimmt weder heiter noch traurig. So fragt man sich, warum eine doch eigentlich recht tiefgründig angelegte Geschichte aus dem Zeitgeist der realistischen Dramenkultur eines Tschechow, Ibsen und Strindberg sich so mühsam, ohne Höhe- und Tiefpunkte, über die langweilige Bühne dahinschleppen muss, obwohl sich alle Darsteller so gewaltig ins Zeug legen

Ist das Stück antiquiert oder sind die Charaktere nicht erfasst oder, vielleicht, sind die Darsteller einfach noch zu jung, um dies komplexe Seelendrama zu erfassen und auf den Zuschauer zu übertragen?  Meines Erachtens ist der überaus präsente und talentierte Wolfgang Vogler – als Don Juan in bester Erinnerung! – als Egomane und Patriarch, als gewissenloser Aufsteiger und perfektes Bild einer verlogenen und verlorenen Gesellschaft, die in ihrer perfiden Selbstdarstellung jeglichen Widerstand beiseite schafft, keinesfalls ein so ausgebuffter Sadist, dass man ihm den reichen Fabrikanten Friedrich Hofreiter mit all seiner Niedertracht bedenkenlos abnehmen könnte. So sympathisch, selbst verwirrt und verirrt in den Zwängen seiner übersteigerten Selbstdarstellung, nimmt man ihm die Kaltherzigkeit des rücksichtlosen Unternehmers und Ehemannes nicht ganz ab. Hofreiters hinterhältige Rücksichtslosigkeit will nicht recht zu Voglers strahlender Persönlichkeit passen, die hungrige Liebesgier des Fabrikanten und dessen panische Angst vor dem Alter sind angesichts dieses jugendlichen Helden ebenso unbegreiflich wie die Zwanghaftigkeit des Wiener Biedermannes, auszumerzen, was seinen Ruf als Herrn der Familie und Herrscher über die abhängige kleingeistige Adelsclique, die ihn umschwirrt wie Bienen ihre Königin, beschädigen könnte. Hofstätters Skrupellosigkeit, mit der er den Menschen in seiner Umgebung, vor allem aber der Empfindsamkeit seiner Gattin begegnet, die nur unter Aufwand ihrer letzten Kräfte die gesellschaftliche Fassade aufrecht erhalten kann, wird unter dem Mantel einer mörderischen Gleichgültigkeit verborgen. Einem solch ausgebufften Charakter begegnet Vogler nur als arrogant-kühler Zyniker, dem man die moralischen Untiefen eines derart charakterlosen Mannes aber nicht zutraut.

Franziska Melzer als seine emotional geknechtete Gattin Genia verkörpert eine Frau, die sich nicht so recht in diese Gesellschaft einfügen will und kann. Rein äußerlich bleibt sie ohnehin am Rande der party- und tennisfreudigen Clique, steif und starr in ihrer eingefrorenen Körpersprache, mit zuckenden hilflosen Bewegungen des Kopfes und der Arme, die seltsam unbeholfen Friedrichs Liebe zu ertasten versuchen, der dieses Flehen völlig ignoriert. Den beiden Menschen, denen sie vertraut- dem Hausarzt Mauer und der Mutter Ottos, einer warmherzigen, lebenserfahrenen Schauspielerin (Andrea Thelemann), streckt sie hilfesuchend ihre Hände entgegen. Aber es bleibt kalt. Denn der Ring aus Eis bewahrt sie nicht vor Verletzung und Erniedrigung, und uns fehlt ein Anflug von Wärme, der wirklich bewegen könnte. Dass diese verkrampfte Contenance sie etwa gegen die furchtbare Wahrheit, dass Friedrich sie nicht nur betrügt, sondern auch ihre Liebhaber aus dem Weg geräumt hat, schützen könnte, wird schnell zur Illusion. Und weil jeder weiß, was wirklich gespielt, aber nicht ausgesprochen werden darf, kann sie letzten Endes auch  niemand aus dem äußeren und inneren Gefängnis befreien. Sogar das geliebte Kind Percy zeigt am Ende, dass es im Vater einen tollen Kumpel gefunden hat. Wir empfinden mit dieser Genia, aber ihr Leiden nervt auch ein bisschen.

Um diese Hauptfiguren gesellschaftlichen Elends auf höherem Niveau tummeln sich ein harmloser, allen Lügen und Intrigen gegenüber blinder Tennisfan Paul (Simon Brusis), der froh ist, überhaupt in dieser feinen Runde aufgenommen worden zu sein; dann der alte Bankier Natter, Geschäftsfreund Friedrichs, gebildet, ein wenig abseits dieser Clique, scheinbar absolut desinteressiert an ihrem Treiben und Tun. Fast könnte man ihn ob seiner Würde bewundern, die er aufrecht zu erhalten versucht – doch seine Abhängigkeit von seiner Frau und seine Unterwürfigkeit verurteilen ihn dann doch zu einem Mitglied dieser Spezies. Peter Pagel kann diese Nuancen fein differenziert ausspielen, wie er überhaupt als Senior der Truppe am meisten überzeugt. Dass er hoffnungslos vernarrt ist in seine treulose Gattin, macht ihn nicht blind, aber zu einem Opfer, das still duldet und schweigt – wie Genia. Diese Adele Natter aber ist ihr absolutes Gegenteil. Meike Finck bringt deren frivole Unbeschwertheit mit einer solchen Vitalität auf die Bühne, dass man fast geneigt ist, Friedrichs Leidenschaft für diese heiß glühende Frau zu verstehen, deren fröhliche Gewissenlosigkeit die bleiche Genia einfach in den Schatten stellt.

Unverständlich dagegen bleibt, dass sich Friedrich ausgerechnet in die ungebändigte Erna verliebt. Wäre sie, wie Schnitzler es sicher zielsicher im Auge hatte, wirklich eine faszinierend junge, hübsche kokette Göre, die eher naiv mit den Herzen der Männer spielt, die Frauen fröhlich ignoriert und die Erziehungsversuche der ohnmächtigen Mama ohnehin, man könnte die triebhafte Leidenschaft eines alterndes Mannes begreifen. Aber Nele Jung zeigt uns eine starke junge Frau, die eher peinlich heftig und albern herumtollt, mit einem großen grellen roten Mund verziert und mit so wenig Charme ausgestattet, dass man hier von einer glatten Fehlbesetzung sprechen darf.
Wenig Chancen haben die jungen Sportsfreunde, die am Zügel des Hausherrn Tennis spielen oder Berge erklimmen, um sich zu profilieren. Eddie Irle bleibt als Marine-Fähnrich Otto Aigner farblos und zieht sich feige zurück, als ein Bekenntnis zu Genia vielleicht ihrer beider Leben eine andere Wendung hätte geben können. Nun wird er seine Einberufung nicht mehr erleben und somit die Trennung von der geliebten Genia nicht überleben. René Schwittay kann leider außer einer Armbandage nicht viel in seiner beinahe stummen Rolle als Oberleutnant zur Ehrlichkeit beitragen, und auch Jan Dose als Serknitz bleibt mit wenigen Sätzen eine Randfigur. Hotelbesitzer Dr. von Aigner, geschiedener Ehemann von Ottos Mutter, ist so fies arrogant gegenüber den “einfachen Hotelgästen” wie er einschmeichelnd höfisch bei den Arrivierten dienert, um sich dann doch überraschend sympathisch als philosophisch angehauchte Persönlichkeit darzustellen, die Friedrich Paroli bietet. Portier Rosenstock (Michael Schrodt) ist ein Diener seines Herrn.

Herausragend – auch bei Schnitzler – gibt es den Typus des Arztes (als Eigendarstellung des Autors!) der als gereifter, erfahrener und unbestechlicher Beobachter des Hauses die seelischen Schieflagen und verdeckten Lügen betrübt zur Kenntnis nimmt, sich von den Kletten der Amüsiergesellschaft gerne lösen möchte, es aber doch nicht schafft, Friedrichs Autorität (und Geldbeutel) zu widerstehen. Angewidert vom falschen Schein des Wohlverhaltens, unglücklich verliebt in den quirligen Teenager, voller Mitgefühlt für Genia, bleibt sein überwiegend stummer Protest ohne Gehör. Kein Mann der Zivilcourage.  

Ein trauriger Reigen nach Art des Autors, aber Tobias Wellemeyer liefert keine überzeugende Vorstellung. A.C.

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