A Fist full of Love

Neuköllner Festival “Open Op” im April 2010

 Neuköllner Oper

Eine musikalische Rockshow von Dejan Dukovski und Sandy Lopicic (Mazedonien)

Musik, Lyrics und Inszeneirung: Sandy Lopicic, Text: Dejan Dukovski; Musiklaische Leitung: Dzijan Emin; Ausstattung: Hannah Landes; Dramaturgie: Bernhard Glocksin;
Maria: Jelena Jovanova; Gero:: Gorast Cvetkovski; Djore: Senko Velinov The Dead.but-Live-Band: Ivan Beijkov, Dzijan Emin, Georgi Sareski, Alek Sekulovski

 

 

Die Wahrheit ist gelogen, die Lüge ist wahr

Das Stück vom Schicksal der Menschen während des Krieges in Bosnien ist eine Auftragsarbeit der Neuköllner Oper für Dejan Dukovski und Sandy Lopicic, gemeinsam mit den Schauspielern der Mazedonischen Nationaltheaters Skopje eine Oper zu entwickeln, die an die Rocktradition der Jugend des Balkans vor dem Krieg anknüpfen sollte.

Die kleine Show beginnt mit ihrem Ende. Alle sind tot, keiner kann mehr vor die Bühne treten und spielen. Und dann zieht die kleine Maria mit aller Kraft den langen weißen Vorhang beiseite und gibt die Musikband im Hintergrund und eine irgendwie unordentliche Bühne frei, auf der sie in amerikanischem Englisch und schriller Stimme verkündet, was sich ereignen wird. Natürlich nur ansatzweise. Dann zerrt sie die beiden ungleichen Brüder (und Liebhaber) auf die Bühne, und lässt sie wie Marionetten zu ihrem Song agieren. Doch die wollen nicht und treten ab; schließlich sind sie ja bereits tot und müssen sich von Maria nicht länger herumkommandieren lassen.
Und doch: dann treten sie wieder an, quicklebendig, voller Erstaunen, voller Feinseligkeit, voller Aggression, voller Bruderliebe oder ist es Bruderhass, genährt durch die langen Jahre des Verschwindens von Djore, der sich in Amerika das Glück erhoffte und jahrelang kein Sterbenswörtchen von sich gab. Oder ist es die Wut auf Gero, der seine Braut Maria heiratete, oder ist es die Trauer, dass die Mutter allein und beinahe unbeweint starb? Alles ist geschehen und doch stimmt nichts so richtig. Sie gehen auf einander los, umarmen einander, verstehen sich und zweifeln wieder, während sie sich zufällig während einer Gefechtspause in einem Krieg begegnen, von dem keiner recht weiß, warum und gegen wen er geführt wird. Doch eines wissen sie; dass sie in vorderster Front stehen und als erste im nächsten Gefecht im Morgengrauen sterben werden; da gibt es keinen Ausweg. Und so nehmen sie ihre Gitarren und spielen. Doch in der Wut auf einander werden die Instrumente auch schon mal zu Gewehren, aber das Temperament verraucht schnell, und die Gitarren zaubern wieder schöne traurige Lieder. Amerikanische Songs waren bei der Jugend des Balkan beliebt als der erschütternde Bruder- und Glaubenskrieg noch undenkbar war.
In ihrer Muttersprache reden die beiden Brüder nur im persönlichen Streit, in den unglaublichen Geschichten, auf der Suche nach Maria, die jeder von ihnen liebt oder geliebt hat? Und mittendrin tanzt und turnt und zwitschert und röhrt die kleine Maria mit Gebärden und Possenspiel und begleitet die verzweifelte Suche der Brüder nach einer Wahrheit, die man einander nicht zumuten kann, und die als Lüge getarnt wird, damit der Schmerz die Gegenwart nicht so bedrohlich werden lässt.

Dies ist vor allem ein poetisches Spiel, eine wunderbare Skizze fremder Mentalitäten und vor allem der Familienbande; und der Gewissheit, dass die Musik sie alle vereint, dass Amerika nicht das gelobte Land ist, aber dass der Balkan brannte, weil die Völker mit sich und ihren kleinlichen Familienkriegen beschäftigt waren – das wird humorvoll in kraftvolle und auch zärtliche Songs eingebettet, während die Kanonensalven in der Ferne bedrohlich herandonnern. Worüber spricht man als Mann, wenn nicht von der Liebe, vom flüchtigen Sex, vom männlichen Imponiergehabe, vom Essen und vom Vermächtnis der Bruderliebe.

Jelena Jovanova ist eine quicklebendige, wenn auch tote Maria, mit schillernden Stimmvariationen, geschmeidiger Körpersprache und schelmischer Mimik, Gorast Cvetkovski als der sanfte Bruder Gero alles in einem: zunächst aufschneiderisch und prahlend, dann ein Phantast wie es scheint, der die Wahrheit und Vergangenheit so zurecht fabuliert, dass sie erträglich wird, während Senko Velinov als Djore wie ein texanisches Rauhbein (die Stimme ist von der Faszination eines Brecheisens und sehr attraktiv) auftritt und schon ein Filou und entwurzelt war, bevor er sich in den Staaten mehr schlecht als recht durchwurstelte.

Und nachdem die beiden Brüder auch im Jenseits angekommen sind, rutscht Maria noch einmal vor das Publikum und verkündet schelmisch triumphierend ihre Wahrheit – oder ist auch die erdacht, damit sich alles so schön rundet und das Schicksal seinen Sinn erhält?

Neben den “großen” Festspielabenden im Deutschen Theater, wo die Regisseure keine Gnade mit menschlichen Schwächen kennen und  die Anforderungen unserer Welt mit unerträglicher, realistischer Grausamkeit vorführen, hält dieses kleine Theaterstück trotz aller furchtbaren Kriegsrealität den notwendigen Abstand, den das Theater für seine Botschaft benötigt.  A.C.

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