Minus 16. B Choreographien von Aharon Eyal und Ohad Naharin

SAABA und Minus 16
Choreographien von Aharon Eyal und Ohad Naharin
Staatsballet Berlin, 2. Aufführung
in der Deutschen Oper, Berlin, 2024
Co-Choreographie: Gai Behar, Musik: Ori Lichtik, Kostüme: Maria Grazia Chiuri für Dior
Licht: Alon Cohen, Einstudierung: Léo Lérus, Darren Devaney, Dominci Santia, Olivia Ancona

Romantische Trancewelten oder Techno ohne Erbarmen?

Die Bühne ist dunkel, die Lichteffekte zaubern einen pastellfarben schimmernden Dunst, die Kostüme sind von Dior, aber das sieht man nicht, denn die schmiegen sich so hauteng an den Körper, dass Spitzen und Dekor eher wie Elfenbein, also ganz und gar natürlich erscheinen. Und das ist auch die Absicht der israelischen Choreographin Sharon Eyal, die zunächst ihr eigenes Werk SAABA vorstellt, bevor ihr Meister Ohad Naharin in der zweiten Hälfte des Abends eine bereits15 Jahre alte, jedoch äußerst variationsfähige Arbeit präsentiert, die mit ebenso viel Charme und Temperament begeistert wie zuvor SAABA in der 50minütigen Aufführung mit ihrem hartem Techno-Sound und einem angepasst disziplinierten Bewegungsablauf, dass man vom Zuschauen wie in einen Sog rauer Rhythmen alter Stammeskulte hineingezogen wird.

Was aber ist mit den Tänzerinnen und Tänzern? Haben die eigentlich wirklich Körper, Knochen, Muskeln, Sehnen – so wie andere lebendige Menschen? Man glaubt es zunächst kaum. Biegen und sich verbiegen, wirbelnd, zuckend, drehend und verdrehend gleichen ihre Körper eher Gliederpuppen, leblos funktionierend, geordnet in immer neuen Abläufen, individuell mit eigenen, abstrakten Bewegungen, die sich wechselnd in Reihen und Rituale einfügen, dann wieder in schwirrenden Schwarmformationen über die Bühne gleiten. Und alles auf halber Spitze, das heißt, auf den Ballen getanzt!, Gruppenverhalten contra Individualität, so könnte man den ersten Teil des Abends überschreiben, in dem 50 Minuten lang die Tanzenden in einer schwindelerregend schnellen und absolut soldatisch exakte Manövrierkunst ihrer Gelenke und Sinne unter dem Bann des unbarmherzigen und doch mit feinen Nuancen verlaufenden Techno Sounds einer organisierten fesselnden Ästhetik folgten.

Was wollen sie ausdrücken, was bedeuten diese unheimlichen, oft drohenden Verrenkungen und Gebärden, die schon gar keine Sinnlichkeit mehr suggerieren, sondern eher Automaten gleichen, deren Führer hoch oben unter dem Bühnenhimmel unsichtbare Fäden ziehen und die Marionetten erbarmungslos in alle Positionen schleudern, die eigentlich gar nicht menschenmöglich und machbar sind oder doch? Rohe Energie, gewalttätig mit dem eigenen Körper ein maßloses Spiel treiben oder aber: ein Austarieren, ein Ausschöpfen aller kreativer Möglichkeiten und emotionaler Hingabe. Hier werden persönliche Vorstellungen von Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit, ebenso aber auch von Stärke und Kraft demonstriert. Und es gibt sicher auch eine politische  Komponente -immerhin kommen beide Choreographen aus der israelischen Batsheva Dance Company.

Die Zauberformel für diese außerordentliche akrobatisch anmutende Tanzkunst heißt Gaga und ist eine ganzheitlich ergänzende Arbeitsweise in der Tanzausbildung, in der sich die Bewusstheit für das Zusammenwirken aller physischen Möglichkeiten mit mentaler Energie verbinden und ergänzen.

Das ist schwer zu begreifen, aber es gab sogar im Vorfeld der Aufführungen ein Angebot an Tänzer und Interessierte Ballettfreunde, an einem entsprechenden Einführungskurs an der Deutschen Oper teilzunehmen, um diese energetischen Impulse selbst zu erfahren und auszuprobieren. Eine sehr eigenwillige, einzigartige Komposition aus persönlicher Emotionalität und einer abstrakten Expressivität.

Der zweite Teil zeigt die meisterliche Erfahrung von Ohad Naharin, der seinen Tänzerinnen und Tänzern auch innerhalb einer exakten Formation eigene Entfaltung erlaubt, ebenfalls in atemberaubendem Tempo, kaum, dass eine Sequenz beendet ist, folgt die nächste Turbulenz in „Minus 16“,

Hier müssen sich die Tänzer nicht nur physisch an ihre Grenzen begeben, sondern zugleich mit ihren eigenen Emotionen in einer ganzheitlichen Ausdrucksform innerhalb der strengen Regeln der Gesamtkomposition darstellen; hingebungsvoll, unbeobachtet, leidenschaftlich, ekstatisch.  Und dennoch synchron, wie im Unisono der Stuhlchoreographie, in der sich wiederum alle einer Gruppendynamik unterordnen und sich gegenseitig animieren, über ihre Grenzerfahrung hinauszugehen. Und dann wieder, allen hohen Anforderungen beinahe zum Widerspruch, erfolgt die Einbeziehung einiger Damen und Herren aus dem Publikum, die zum umtanzten und mittanzenden Partnern werden. Die Compagnie möchte alle Menschen in ihren künstlerischen Auftrag, in ihre Berufung einbeziehen und umwirbelt ihre Partner wie ein herbstlicher Laubsturm, um sie dann jäh fast im Stil eines eleganten Formationstanzes in ihre Welt der Bewegung einzubeziehen. Das ist hübsch und entbindet ein bisschen von der Anstrengung, lässt aber doch auch schon wieder neue Energien aufblitzen, als sich die Gruppe eng zusammenfügt, um einen der ihren zurückzulassen, der sein eigene Choreographie zu einer Erinnerung aus seinem Lebens tanzt.. Das ist berührend und schafft noch mehr Intimität und Mitgefühl für die vielfarbige Kunst des Tanzes.

Jedenfalls ein aufregender Abend, ein neues Balletterlebnis, das nach dem zur gleichen Zeit in den Berliner Kinos laufenden Dokumentarfilm über John Cranko eine gänzlich andere Erweiterung erfährt. A.C.

 

2 comments

  • Monika Winny

    Guten Abend Angelika,
    Sitze z. Z. Im DT und genieße gleich zu erst die Einführung und anschließend die Aufführung des DINNERS .
    In der Wartezeit las ich deine hervorragende Kritik zur “Halben Spitze”. Es war ein tolles Erlebnis am Montag. Es grüßt dich Monika

    • Liebe Monika,
      Herzlichen Dank für dein Feedback. Ich muss noch die Kurzfassung einfügen, hatte ich gestern nicht mehr geschafft. Weil ich auch noch die Vaganten und Chicago auf dem Block hatte.
      Willst du nicht über „Dinner“ schreiben?
      Grüße bis zum nächsten Mal! Angelika

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