Antigone/Hyperion

von  Sophokles / Hölderlin

Maxim-Gorki-Theater 2008/9
in einer Bearbeitung von Jan Bosse und Andrea Koschwitz
Regie Jan Bosse; Dramaturgie: Andrea Koschwitz; Bühne: Stéphane Laimé
mit: Anja Schneider, Ronald Kukulies, Britta Hammelstein, Leon Ullrich, Max Simonischek, Ruth Reinecke, Sebastian Rudolph

 

Patchwork fürSchauspielschüler

Die dunkle Bühne ist über und über mit Hosen, Hemden und Jacken ausgelegt, als ob man in der Kleiderkammer des DRK aufgeräumt und die Deponie kurzerhand ins Gorki-Theater verlegt hat. Auch einige Besucherplätze sind mit schwarzen Umhängen und einzelnen Kleiderstücken drapiert. Was sie hier bedeuten, bleibt ein Rätsel; auf der Bühne begraben sie, zu Hügeln aufgetürmt, die gefallenen Soldaten des thebanischen Tyrannen Kreon unter sich. Einer von ihnen ist Polyneikes, der sich an die Seite des Feindes stellte und im Zweikampf gegen seinen Bruder Etheokles getötet wurde. Niemand im Reich darf den Geächteten bestatten, auch nicht seine Schwester Antigone. Ein Outlaw, ein Verräter, den Vögeln zum Verzehr hingeworfen. Wer sich Kreons Befehl widersetzt, wird mit dem Tode bestraft. Kreon schließt Antigone in den Kerker, die treu dem Gesetz der Götter und der Familienbande folgte, indem sie den Bruder mit Staub bestreute, um ihm seinen Platz im unterirdischen Reich der Götter zu sichern.

Das ist die eine Geschichte. Vermischt mit ihr als schwer verdauliches Elixier ist die Geschichte des Jünglings Hyperion, der bei dem romantisch-revolutionären Hölderlin das Reine, Gute, Wahre und Schöne im klassischen Griechenland sucht – im Reich der antiken Mythen und einer von ihm verklärten, letztendlich jedoch gnadenlosen Götterherrschaft. Hyperion, der Schwärmer, der Weltverbesserer, der Wanderer, der Träumer und Anti-Realist jedoch wird bei Jan Fosse, dem blendenden Minimalisten und gnadenlosen Nihilisten, in der Person des Polyneikes wieder auferstehen, und all dass sagen, was der Hölderlin-Unkundige bisher noch nicht wusste. Sebastian Rudolph ist ein von seinen Idealen betrogener, vom Krieg entsetzter und seelisch verletzter griechisch-deutscher Jüngling, der in der Liebe zur Natur, zur Schönheit der Landschaft sein wahres Leben findet. Und auch Antigone erhält sozusagen eine zweite Identität, indem gedankliche Versatzstücke aus der Zeit eines Werther, eines Don Carlos, eines Hyperion, in ihr klassisches Lebensdrama eingebettet werden. So wandeln hier die antiken Gestalten zwischen den Welten und verkörpern letztendlich den Idealismus aller Zeiten, den stets eine hehre Utopie begleitet: für die Liebe, das Reine, Göttliche, Gute und Wahre zu kämpfen – bis in den Tod. Antigone und Polyneikes sind einander in ihren Empfindungen wesensgleich.

Antigone geht für ihre Tat in den Tod, ihr Verlobter Haemon, Kreons zweiter, vom Krieg versehrter Sohn wird ihr folgen und damit die Mutter in den den Selbstmord treiben. Kreon wird wie ein Wahnsinniger um das Recht des Herrschers, um die Gültigkeit der Gesetze seiner irdischen Macht kämpfen; er wird mit Antigones Schwester Ismene zurückbleiben und dem Untergang seiner Stadt erleben müssen. Die Götter werden seine Taten nach ihrem Gesetz ahnden.

Für die Schauspieler, die zwischen der Altkleidersammlung und an einem in der Mitte des Raumes placierten Rednerpodest – dann und wann mit Mikroverstärkung ihre statements verkünden, ist diese Inszenierung eine strapaziöse Aufgabe. Denn nicht nur die befremdliche Sophokles-Übersetzung Hölderlins verzichtet auf rasch erfassbare Aussagen, auch den poetisch überhöhten Hyperion-Text versteht man nur schwer – teils, weil alle Darsteller wie immer zu schnell sprechen, aber diesmal auch zu undeutlich artikulieren – als ob sie alles zwar intensiv, aber rasch hinter sich bringen wollen: Dabei gewinnt noch Ronald Kukulies’ moderner Kreon immerhin zum Schluss noch an Format, wenn er sich kraftvoll schauspielerisch ins Zeug legt und diesen um Söhne, Frau und Nichten und demnächst auch um seine Herrschaft gebrachten Mann so erbärmlich, so erbarmungswürdig über die Bühne stolpern läßt; Ein der Macht entblößter Herrscher ist am Ende seiner Begriffswelt! Und aus den textilen Grabhügeln erheben sich die bloßen Leiber der Gefallenen, formieren sich zum klassischen Chor leise klagend im Hintergrund.
Anja Schneider, die als mütterliche Antigone in theatergerechter Trauerkleidung den Bruder vor die Brust hält wie eine Michelangelo-Pieta, kann nicht wirklich ihre Fassungslosigkeit ins Publikum übertragen; zu sehr ist sie der Aufgabe der Textbewältigung verhaftet, nur wenig stehen ihr die großen Gesten der Tragödin zur Verfügung, als dass sie die Menschen in den Bann zu schlagen vermöchte. Vielleicht wird das eines Tages Britta Hammelstein gelingen, deren Ismene sich, schwesterlich klug und doch hingebungsvoll in die Familienbande verschlungen, mit einer faszinierenden Ausstrahlung darstellt. Man wird von ihr noch einiges erwarten dürfen. Lang und etwas lümmelig, mit Beinschiene und Gehhilfe hinkt auf Krücken ein langmähniger Max Simonischek als Haemon daher, der – und hier wird Hölderin sehr präsent – mit jugendlichem Ungestüm, Widersinn und mit entsetzlicher Kurzsichtigkeit dem Vater an den Kopf wirft, was dessen Herz nur verhärtet, aber seinen Verstand nicht erweicht.

Es gibt unverstandene Satzpassagen und langatmige Szenen, aber das Experiment ist nicht ohne Reiz und macht durchaus betroffen, wenn man sich auf den pausenlosen, ambitionierten intellektuellen Weg einlässt. Alles in allem aber ist es wohl doch eher eine Patchwork-Inszenierung für Schauspielschüler und Deutschlehrer. A.C.

 

Der Dichter Friedrich Hölderlin starb, 1843, mit 73 Jahren nach einem intensiven und leidvollen Leben psychisch krank im Heidelberger “Hölderlin-Turm”, seit 1807 bis zu seinem Ende betreut und gepflegt von dem Tischlerehepaar Zimmer.

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