Aus der Mitte der Gesellschaft, OL

von Marc Becker
Oldenburgisches Staatstheater

Inszenierung: Marc Becker, Bühnenbild:Hharm Naaijer, Kostüme: Alin Pilan, Dramturgie: Jörg Vorhaben, Licht. Herbert Janßen, Video: Kostantin Bock
Mit: Sarah Bauerett, Bernhard Hackmann, Sebastian Herrmann, Denis Larisch


Bitte – wo finde ich eine Perspektive?

In der Mitte der Gesellschaft wohnt die Mittelmäßigkeit, herrschen Bequemlichkeit, Angst vor Veränderung, Sorge um Sicherheit, Orientierungslosigkeit. Da haben sich gern und schnell gefällte Beurteilungen, verquere Weltsichten, emotionale Entscheidungen, Vorurteile und Stammtischargumente einquartiert. Da wohnt der Durchschnitt, da wohnen wir. Aber die Mitte ist auch das Mass der Gesellschaft.

Unter einer bombenartig geformten Keule am Bühnenhimmel raspelt in einem geistreichen Wortwechselspiel ein elegantes Orchesterquartett im rhythmischen Gleichklang viellautig an der Realitätsverdrossenheit unserer Gesellschaft und sucht in imaginären Notenblätten tonringend und klangsuchend zunächst um eine Standortbestimmung, dann, folgerichtig um eine Perspektive. Doch die findet sich so recht nirgendwo, weder auf dem Notenständer, noch im Supermarkt, auch nicht beim Nachbarn nebenan, die gibt es, so scheint es, nirgendwo, wenn nicht bei uns selbst. Aber so weit sind wir erst nach anderthalb quirliger Stunden globaler Life-Stile-Bilanz.

Man simuliert die Overtüre der allgemeinen Weltverdrossenheit, kratzt an nutzlosen Statistiken und Placebos gegen aufkeimende Angst und Unruhe, beruhigt sich mit Überdenken der eigenen Befindlichkeit, denn was können der kleine Mann, die kleine Frau schon tun gegen Ungerechtigkeiten, wirtschafltiche Zwänge, Kriege, Terror, Entlassungen, Arbeitslosigkeit, gesellschaftlichen Abstieg?

Es ist die ganze Skala unserer Lebenswirklichkeit, die dieses Schauspielerteam mit exzellenter Körperspache und scharfer Artikulation abwechselnd im absurd-wirren Wortstakkato und im ernsten Alleingang mit vollständigem Satzgefüge aus sich herauspresst und uns gleichermaßen ins Gemüt hineinkatapultiert. Man muß dem Autor und Regisseur Marc Becker bewundern, wie er seine kritische Gesellschaftsanalyse wie ein Jongleur in die Luft schleudert, um sie geschickt wieder einzufangen und fortlaufend zu ergänzen. Dazu stehen ihm mit der entzückend gewandten Sarah Bauerett, dem wohltönenden Bernhard Hackmann, dem scharf artikulierenden Denis Larisch und dem vielseitig strapazierten Sebastian Herrmann entsprechende Zauberlehrlinge zur Seite, die mit blitzartiger Geschindigkeit schwer zu Lernendes und doch leicht zu Verstehendes im passenden Designeroutfit der kernigen Aufsteigergenerartion und der spaßversessenen Bohèmiens vor Augen und Ohren bringen: Wie man nach oben kommt, und wie schnell auch die Rolltreppe wieder nach unten führt.

Was fehlt, sind Ideale, andere Lebensinhalte – quergedacht – dass nicht mehr Jugend, Schönheit und Reichtum an vorderster Front des Begehrens, der Werbung, des Images stehen – wie wäre es? Eine leichte Spöttelei, von der man sich nur allzugern wünscht, dass ihr Kerngedanke wahr würde. Aber das geht wohl nur auf der Bühne, in Gedanken der Künstler und Intellektuellen, die auf der gesellschaftlichen Skala nur schwer unterzubringen sind; denn sie springen und tanzen nach eigenen Regeln und lassen sich heute nicht auf morgen festlegen. Gut so. Das macht zwar nicht reich, aber Spaß und verspricht lebenslange Lebendigkeit.

Ein somit auch ungemein lebendiger Abend, den man nicht versäumen sollte. Als Bestandsaufnahme, als Analyse, als Hilfe und Anleitung zum Überdenken des eigenen Standorts. Erkenntnisse und Meinungen hat man nämlich genug – aber wohin haben sie uns hingeführt? Allerdings, ganz deutlich erkennbar ist die Botschaft dieser umfassenden Vermessung unserer Werte nicht. Es fehlen dramaturgisch ein thematischer Aufbau und eine kontiniuierlicher Entwicklung , die die Wirklichkeit und Bierdeckelphilosophie zu einem Endpunkt, zu einer Konseuenz führen, kurz also, eben zu einer Perspektive. Aber weil die offensichtlich nicht so schnell zu finden ist, bleibt  alles unverbindlich, unverfänglich, und am Ende gestehen sich die vier Protagonisten nach dem Durchdeklinieren allen Unbehagens mit einiger Verwunderung und noch mehr Schrecken, dass sie eigentlich keine Angst mehr haben. Gut so, dass man sich einmal ausgesprochen hat. Es ist wie beim Therapeuten: Sind die Sorgen erst einmal von der Seele, so geht es einem schon sehr viel besser. Aber das Überdenken der eigenen Standpunkte und des möglichen Handlungsspielraums sollte dann langsam einsetzen, denn das Bewußtsein verändert doch das Sein. Oder? A.C.

 

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