Eugen Onegin OL

von Peter Iljitsch Tschaikowsky
Lyrische Szenen in drei Akten (1865); Text von Konstantin Schilowsky nach Puschkins Versroman (1838)
Oldenburgisches Staatstheater, 2014

Musikalische Leitung: Thomas Bönisch, Inszenierung: Julia Hölscher; Bühne: Cora Saller; Kostüme: Susanne Scheerer; Körperarbeit: Johanna Roggan; Licht: Steff Flächsenhaar; Dramaturgie: Rebecca Graitl
mit: Linda Sommerhage (Linda), Maria Kalesidis (Tatjana), Geneviève King (Olga), Helena Köhne (Filipjewa), Paul Brady (Eugen Onegin), Daniel Ohlmann (Lenski), Benjamin LeClair (Fürst Gremin), Leonard Katarzynski/Philipp Zehnof f(Hauptmann), Henry Klichli (Saretzki), Michael Pegher (Triquet), Mykola Pavlenko (Vorsänger)
Opern- und Extrachor, Oldenburgisches Staatsorchester

Zwischen Sehnsucht und Schwermut

Ein junges Mädchen erwacht aus seinem Dornröschenschlaf und mit ihm der Hofstaat – hier besteht er aus einem langsam zur Munterkeit sich erhebenden Damenquartett, das sich sehnsuchtsvoll eine Zeit herbeiwünscht, in der die Mädchen nicht mehr nach den Willen der Väters verheiratet werden, und ihr monotones Leben an der Seite eines meist ungeliebten Mannes als bessere Magd im Ehestand der Vergangenheit angehören wird. Diese Auftaktszene, die sanft die sehnsuchtsvoll-schmerzliche Overtüre des wohldifferenzierten Orchesters wieder aufnimmt, wird in einem raffiniert schräg nach vorn abgedunkelten Spiegel wiedergegeben, der alle Szenen auf der vorderen Bühne wie in einer Traumwelt einfängt und schemenhaft wiedergibt.

Und da ist diese wundersame, kleine zerbrechliche Träumerin Tatjana in der Obhut ihrer Mutter, der lebhaften Schwester und eines freundlich fröhlichen Gesindes (mit herrlichem Schwung und farbenfroher Lebendigkeit die Chöre!), das die Feste feiert, wie sie fallen. Maria Kalesidis’ Tatjana in schlichtem Rock und gestreifter Bluse (wie sie später Triquet, ein unbeschwerter  Harlekin ebenfalls trägt) lebt tief in der Phantasiewelt ihrer Mädchenromane, die immer mit einem glücklichen Ende schließen. Und so wartet sie auf den Prinzen, der kommen und sie in eines schönen Tages in eine wunderbare Welt führen wird. Ihre Vision schließt sie vom Alltag des Dorfes und seiner Menschen ab und umhüllt sie mit einem irrealen Wunschdenken, dem sie zunehmend schwermütig verfällt. Sie ist ganz und gar die Verkörperung der sogenannten “russischen Seele”, der untätigen Hoffnung und Erwartung auf ein glückliches Leben, dass sich irgendwann und irgendwo ereignen wird. Maria Kalesidis kann mit klarer, melodiös geführter Stimme ebenso leidenschaftlich wie innig, aber auch mit Festigkeit ausdrucksvolle Akzente setzen, die Ansätze zur späteren willensstarken Eigenständigkeit dieses Mädchens deutlich werden lassen.

Denn als Tatjana in ihrem Gefühlsaufwall in der Nacht ein Liebesgeständnis an Onegin verfasst und es ihm am anderen Morgen zukommen läßt, ringt sie einerseits um die wohlerzogene Zurückhaltung ihrer starken und verwirrenden Liebe, von der sie aber andrerseits mit sicherem Instinkt weiß, dass sie aus der Enge der Konvention ausbrechen muß – wie soll der Mann sonst erfahren, was sie für ihn empfindet… Doch solch ein für Mädchen unstatthaftes Verhalten, das Geständnis einer so ungewöhnlich hingebungsvollen Leidenschaft muß einem freiheitssuchenden Mann (hier Paul Brady in einer Vaterfigur mit festem, bezwingenden Bariton, aber in der Körperhaltung und Bewegung ein junger Mann voll zärtlicher Unsicherheit und Zerrissenheit!)) wie ein drohendes Gefängnis vorkommen; eingesperrt in genau diese Situation, die ja letztlich auch die Frauen nicht wollen: Arbeit, Ehe, Familie, Kinder, ewiggleiche Eintönigkeit auf dem Lande, fernab allen “wahren” Lebens – irgendwo da draußen in einer weiten Welt…

Dass er mit der lebenslustigen Olga (Geniève King mit lasziver Leichtigkeit und bezirzender Stimmführung), der Braut seines Freundes, zu heftig beim Dorffest flirtet und sich darob der Duellforderung des Freundes Lensky nicht widersetzen kann, spielt Brady in jeder Nuance glaubwürdig: innerlich aufgewühlt, will er einerseits alles andere als den Tod des Freundes, andrerseits wird dieser ihn in seinem Eifersuchtswahn mit Sicherheit erschießen. (Daniel Ohlmann als Lensky zwanghaft gefangen in siener verheerend unkontrollierten Leidenschaft). Und so folgt Onegins harmlosen Besuch bei Tatjana, Olga und ihrer Mutter Larina (Linda Sommerhage stellt eine starke Persönlichkeit dar mit einem dramenüblichen Hang zu ihrem Verwalter…) ein häßliches Ende; nun muß Onegin endültig fort, fliehen vor der zu früh verwitweten Braut, der liebeskranken Tatjana und der Rache des Dorfes.

Als er nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt, wird er Tatjana wiederbegegnen, die nun die Frau des Fürsten Gremin (Benjamin LeClair wie immer eine großer eindrucksvoller Darsteller in vollem Ornat und Staatsdress und natürlich abgrundtief beeindruckendem Bass!) geworden ist. Jetzt ist er es, der sie leidenschaftlich liebt und anflehen wird, mit ihm fortzugehen. Aber Tatjana wird nach einem harten inneren Kampf der Versuchung, in ein Scheinglück zu fliehen, widerstehen. Das ist die letzte, die großartig in einem Terzett ausklingende Szene dieser traumweltverbundenen Inszenierung, die die rastlose, von Schwermut und Lebensüberdruss, von Langeweile und untätiger Schicksalsergebenheit gezeichneten russischen Psychopathologie transparent macht, wie sie später auch Anton Tschechow zum Schlüssel seiner Schicksalsdramen machen wird, in denen alle Menschen in ihrem Dornröschenschloss ebenso lethargisch wie hoffnungs- und sehnsuchtsvoll verharren, umgeben von hohen unsichtbaren Mauern zur Außenwelt, die ihnen Angst und Sehnsucht gleichermaßen einflößt. A.C.

 

 

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