Emilia Galotti, OL

von Gotthold Ephraim Lessing
bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen, Uraufführung am 13.3. 1772
Oldenburgisches Staatstheater, 2012
 Regie: Julia Wissert, Bühne und Kostüme: Sandra Materia, Musik: Arthur Mróz, Licht: Ernst Engel, Dramaturgie: Daphne Ebner
 
 Emilia Galotti – der Ehre geopfert
 
Was, so fragt man sich angesichts der ethischen Vorstellungen eines Lessing, was hätte heute noch an den Werten der Aufklärung Gültigkeit, und wie könnte man ein so überschwängliches Spiel von Liebe, Ehre und tödlichen Konsequenzen adäquat auf die Bühne bringen? Eventuell als Kriminalstück, ernsthaft, bedrohlich, spannend auf das tragische Ende zielend oder als wortgetreuen Klassiker mit einigen zumutbaren Kürzungen und unterhaltsamen kleinen Brüchen, die dann doch noch vergnügliche Reaktionen am Rande erlauben? Oldenburgs Regisseurin Julia Wisser entschied sich für die klassische Lösung, allerding mit enormen Drive und ausgewiesenen Charakteren, so dass ein ganzer Theatersaal voller Schüler mucksmäuschenstill  fasziniert zuschaute.  Gemessen an dieser Reaktion ist die Inszenierung gelungen. Dass man auch gänzlich anders an diese Themen: Ehrlichkeit, Treue, Anstand, Stolz und Ehre herangehen könnte, wäre als ein zweiter Schritt denkbar, wenn die Grundlagen gefestigt sind.
Das heißt, ein Lessing gehört noch immer zur schulischen Pflichtlektüre und, sei es auch altmodisch gedacht, zur Besinnung an gesellschaftliche wie individuelle Verhaltensregeln und Moral. Und, seien wir ehrlich: es ist noch nicht solange her, dass eine patriarchalisch orientierte Familie türkischer Herkunft in Deutschland eine Tochter von den Brüdern ermorden ließ, weil sie sich vor der ausgesuchten Gattenwahl mit einem Mann eingelassen hatte…
Absolut überraschend und beeindruckend ist bereits der Auftakt zu diesem Spiel: der Prinz betrachtet hingerissen und völlig in den Bann geschlagen das überlebensgroße auf einer Leinwand vor ihm sich im leichten Luftzug bewegende Bildnis einer wunderschönen, bräutlich geschmückten jungen Frau. Abwechselnd leuchtet das liebliche Gesicht rein und glänzend im Licht, dann wieder zerknittert es in tausend Fältchen so wie sich gerade die Leinwand verschiebt. Dass der Auftakt, nämlich der Disput des Prinzen mit dem Künstler über das Wesen eines Porträts, hier leider gestrichen ist, gehört zur Reduzierung der Aufführung auf den moralischen Kern.
Johannes Lange erlebt diesen Anfall von Liebesglut seelisch wie körperlich und reagiert wie ein Besessener, der einem epileptischen Anfall erliegt. Klar, dass er fortan darauf bedacht sein wird, seine Gier blindlings mit allen Mitteln seiner uneingeschränkten feudalen Macht zu befriedigen. Dass er sich dabei seines ergebenen Dieners, des Fürsten Martinelli bedient, der als Schüler Macchiavells (beachtlich die Ähnlichkeit der Namen) nicht vor den infamsten Mitteln zurückschreckt, zeigt glaubwürdig die unfassbare ( und hier auch die feige) Willkür der Herrschenden, derer sich die Aufklärung widersetzte, und, nach vielen Opfern und Zeiten, auch erfolgreich.
Doch noch wütet die Willkür des hohen Adels in Person des Prinzen von Guastalla, dem sogar der Graf Albani zum Opfer fällt. Raijko Gaith hat leider nur eine kurze Zeit die Möglichkeit, seinen Stand Ehre zu erweisen, nicht nur indem er auf höfische Heuchelei und Vorteilnahme verzichtet und sich den Wünschen des Prinzen widersetzt, sondern indem er eine bürgerliche Frau, nämlich eben diese Emilia Galotti zur Frau wählt. Sein Widersacher Marinelli, der angetreten ist mit seinen Schergen Angelo und Camillo, dem Grafen die Hochzeit mit Emilia zu vereiteln, muß erleben, wie man ihn nun jäh höhnt, demaskiert und zurücksetzt. Noch triumphiert der tempermentvolle Verteidiger von Ehre und Anstand, aber er hat sich selbst bereits sein Todesurteil geschrieben. Dass sich dieser Part zwischen dem Höfling und dem Verfechter eines ehrhaften Standeskodex nur so kurz abspielt, ist eigentlich jammerschade, aber nicht der Textbearbeitung zuzuschreiben. Auch Lessing hatte größeres Gewicht auf die höfische Kabale und das bürgerlich starre Standesverhalten vor allem von Emilias Vater gelegt. So konnten sich Pirmin Sedlmair und Geith als Marinelli und Appiani zwar einen schnellen Schlagabtauch liefern, aber weder gelang es dem einen, sich als teuflischen Vordenker noch dem anderen, sich als Vorreiter einer charakterlich untadeligen Elite auszuweisen.
Für die entzückende Emilia, lieblich gelockt, schlicht in Kleidung und Gemüt, deren leichte, leise Worte und zögerliche Gestik nur annähernd den Liebesschauer verraten, den ihr die galante glühende Schmeichelei des Prinzen beim Kirchgang bereitete, ist die Welt vorerst – beinahe – noch in Ordnung. Ihre Mutter, die ein wenig die Rolle der Frau Marthe einnimmt, die Goethes Gretchen in seiner frommen Scheu geschickt beeinflußte, weiß nur zu gut um das höfische Spiel der Begierde und der Verführung, und sie ist sich nicht so sicher, ob sie der Tochter nicht die Ehre einer fürstlichen Geliebten so rundherum ausreden soll. Sehr schön kann Nientje Schwabe ihren mütterlichen Stolz zwischen Ehre und Furcht spiegeln, später auch ihre bisher so siegessichere Haltung in Erschütterung und Verzweiflung verwandeln, als die Falle der höfischen Intrige zuschnappt.
Thomas Ziesch versteht sich als ein Vater, der seine Wut der Würde unterordnen muss, sie aber nicht ganz zähmen kann. Er ist kein haltloser Wüterich, sondern indem er das Schicksal seiner Tochter voraussieht, ein Verzweifelter, ein Aufbegehrender, der sich der Unterlegenheit  und Unterdrückung des bürgerlichen Standes fügen muß, es sei denn, er beugt sich der letzten, der einzigen Möglichkeit, die Würde der Familienehre zu retten!
Auf der kühlen, gewächshausartig eingerahmten dunklen Bühne erfolgt der Ablauf dieses Geschehens spannend, schnell und konsequent, mit Überraschungen nur für den, der der Stück bisher nicht kannte: Nach der Weigerung des Grafen, den Auftrag des Prinzen zu übernehmen, kommt es zum todbringenden Überfall auf den Brautzug, zur “Rettung”, also zum Raub der unwissenden Braut. Der künftige Gatte ist ermordet, die Eltern ausgeschlossen ebenso wie die einstige Geliebte des Prinzen, die Gräfin Orsina. Diana Ebert zeigt sie als kluge und wortgewandte Dame der Gesellschaft, die ihre Niederlage eher als Kassandra denn als Erinnye überwindet. Ihre Schmähungen gleiten allerdings an dem aalglatten Marinelli ab, der, wie Mephisto die passenden Schachzüge jenseits aller Scham aus der Schublade hervorzieht. Dass sich Vater und Tochter doch noch einmal sprechen und in die Arme schließen dürfen, ist hier zwar nicht ganz folgerichtig, aber notwendig, damit die Ehre ihre Recht erhält, die Tochter nicht ge- und mißbraucht wird und Vater Galotti noch viele Generationen später damit beschäftigen kann, über sein Verhalten zu resümieren – nämlich: hatte er andere andere Wahl als die, seiner Tochter den Todeswunsch zu erfüllen?
Wie Regisseurin und Schauspieler diese Schlußszene gestalten, ist atemberaubend. Großartig und schrecklich zugleich.
Unbedingt ansehen!  A.C.

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