Supergute Tage, OL

Bühnenfassung von Simon Stephens
nach dem Roman von Mark Haddon, Detusch von Barbara Christ
Oldenburgisches Staatstheater, 2016
Regie: Jana Milena Polasek, Bühne: Stefanie Grau, Kostüme: Natalie Nordheimer, Dramaturgie: Daphne Ebner, Licht: Herbert Janßen
mit: Franziska Werner als Christopher Boone, Thomas Birklein als Ed, Nientje Schwabe als Judy, Magdalena Höfer als Siobhan und Mrs. Alexander, Klaas Schramm als Roger, Reverend, Polizist, Mr.Gascoyne u.a.

Wer hat den Hund der Nachbarin getötet?

Angeblich handelt es sich bei dem 15jährigen sonderbaren Jungen nicht um einen Autisten, denn der Autor war beim Verfassen des Buches noch nicht mit den Eigenarten dieses Phänomens vertraut. Das erklärt, warum sich die “sonderbare Welt des Christopher Boone” auch bei der reinen Lektüre nicht sogleich erklärend mitteilt und der Leser seltsam distanziert bleibt angesichts der im Tagebuch skizzierten Aufzeichnungen von Christopher. Simon Stephen hat nun eine gute Steilvorlage für eine supergute Regie und eine XXL-Aufführung geschaffen, in der Franziska Werner als Christopher mit beeindruckender Ausdrucksvielfalt und Vitalität eine faszinierende Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Wie an Fäden hängen die Mitspieler in der Welt dieses Jungen, nurmehr hilflos und unglücklich reagierend. Er läßt sie alle Gefühlsduschen durchleben, die durch seine unvorhersehbaren und verwirrend spontanen Einfälle und verstörenden Wortkaskaden auf seine Umwelt herabstürzen.

Kraftlos und enerviert umkreisen ihn die Mutter, die ihre Familie aus verschiedenen Gründen verlassen hat, der liebevolle, aber auch jähzornige Vater in der schmerzlichen Unfähigkeit, den Jungen zu verstehen, die gutmeinende Nachbarin, die Christopher mit der ungeschützten Wahrheit in eine tiefe Krise stürzt. In seiner Welt hat nur seine Lehrerin sein Vertrauen, und sie allein findet die richtigen Worte.

Ob nun Asperger Syndrom oder nicht, es gelingt Franziska Werner mit einer noch halb im Kindesalter steckenden Schlaksigkeit, aber bereits mit der Aufmüpfigkeit der halben Pubertät und einer nicht gebändigten Eigenwilligkeit der Gedankenteilchen uns mit diesem seltsamen Jungen vertraut zu machen. Die Hände und Finger spastisch verrenkt, mit Augen und Mund Unbehaglichkeit, Trotz, Schmerz, aber auch vergnüglichen Schalk signailiserend, kann sie eine so überzeugende, teils humorvoll-witzige, aber ebenso tiefe Verstörung und Angst dieses Jungen zeigen, der von der Natur mit einem genialen mathematischen Sachverstand bedacht wurde, sich aber zugleich mit einer von Tabus umgrenzten Einsamkeit von den Anforderungen des Alltags und denen seiner Mitmenschen absorbiert. Sein Denkschema ist für uns, die Zuschauer, sichtbar und einfach zu kategorisieren: es muss überschaubar und in Primzahlen fassbar sein, in Gesetzmäßigkeiten ablaufen, und es darf nichts Unvorhergesehenes, es darf keine emotionale Störung, keine Anforderung an sein normiertes Denk-und Verhaltensmuster geben – dann bricht das Nervensystem zusammen, die körperliche und geistige Kontrolle gerät aus dem Gleichgewicht, und die Umgebung kann nur tatenlos und erschüttert zuschauen.

Anderthalb Stunden lang überrascht uns dieser Christopher: schnellsprechend, mit beeindruckender wissenschaftlicher Intelligenz, aber auch mit unverblümten Reaktionen und unverdeckten Wahrheiten, die alle Höflichkeits- und Anpassungsmechanismen unserer Gesellschaft mißachten. Auf seiner Suche nach dem Mörder des kleinen Hundes seiner Nachbarin geht er beharrlich, unerschütterlich und unbeeindruckt von Ver- und Geboten auf sein ZIel los. Schließlich kennt er seinen Sherlock Homes und weiß, dass er nicht lockerlassen darf. Die Beharrlichkeit des Jungen führt ihn zum Ziel – doch um welchen Preis, um welche Wunde! Vielleicht ist sie heilbar  – nicht nur für Christopher, der bald alles vergessen wird, wenn er demnächst ganz der Mathematik aufgehen darf – aber für Mutter, Vater, Freunde und Nachbarn. Sie werden das zerbrochene Puzzle ihres bisherigen Lebens neu zusammensetzen müssen. Doch das Rad des Lebens, der Geschichte, des unermüdlichen Kreislaufs -als einziges großes Bühnenrequisit von schlichter Symbolik – dreht sich weiter – nur Christopher könnte es vielleicht anhalten…

Deutlich werden über die Bühnenwirksamkeit hinaus natürlich viele Probleme, die mit den Inklusionsbemühungen unserer Tage verbunden sind, z.B.: wie gehe ich mit einem behinderten Menschen um, wie verhalte ich mich angesichts seiner Andersartigkeit, wie schaffe ich es, – auch als Nicht-Therapeut – mich in seine Situation, sein Wohlbefinden und sein Unwohlsein hineinzuversetzen? Wo liegen meine eigenen Grenzen der Güte und Toleranz, der Geduld und – ja auch der Mit-Leidensfähigkeit? Das sind die Fragen, die dieses Stück, vor allem aber diese Inszenierung, hinterläßt und somit eine immerwährende Reflexion innerhalb unserer humanistischen Gesellschaft erforderlich macht. A.C.

Der amerikanische Dramatiker Tennessee Williams beschreibt  in seiner “Glasmenagerie” ein ähnliches Thema in einer theaterkonformen Weise: ein junges Mädchen verspinnt sich in seine schmale Traumwelt voller zerbrechlicher kleiner gläserner Tiere, in die es sich flüchtet, um jenseits einer emotional bedrohlichen Realität zu leben – bis eines Tages der Versuch, diese Scheinwelt zu verlassen, in einem Desaster endet… A.C.

 

 

 

 

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