Alcina, HB

Dramma per musica in drei Akten
von Georg Friedrich Händel; nach Motiven aus Ludovicos Epos “Orlando furioso”, Uraufführung 1735, Theatro Royal, Covent Garden, London
Theater am Goetheplatz, Bremen, 2019
Musikalische Leitung Marco Comin, Insznierung von Michael Talke; Dramaaturgie: Dany Handschuh; Bühne: Thilo Reuther,
Kostüme: Regine Standfuss, Chor: Alice Meregglia, Licht: Christian Kemmetmüller; Statisterie deund Chor des Theaters Bremen. Es spielen die Bremer Philharmoniker
Darsteller: Alcina: Marysol Schalit; Ruggiero: Ulrike Mayer; Morgana: Nerita Pokvytyté; Bradamante: Candida Guida; Oronte: Luis Olivares Sandoval; Melisso: Stephen Clark; Alcinas Dienerinnen: Ursula Clasen, Marion Hartmann, Dorothea Schuler, Dieter von Glahn

 Tränen stumm wie ein glühender Lavastrom

Diese Szene wird man niemals vergessen, und sie ist das Geheimnis einer großen Kunst, die Schmerz und Tränen in  Töne zu verwandeln versteht. Als Marysol Schalit als Alcina die Kraft ihres Liebeszaubers über den Ritter Ruggiero verliert, bricht nicht nur ihre Zauberkraft, sondern ihr Herz.Und niemals sah und hörte man hier eine vergleichbar in so unsägliches Leid verwandelte Arie, deren Wimmern und Schluchzen, deren nicht in Sprache auszudrückende Seelenpein so tief, so echt, so berührend klang. Und es hätte keines Hinweises bedurft, dass diese wirklich böse Zauberin dem Letzten ihrer männlichen Opfer selbst in tiefster Liebe verfallen war. Das war kein wildes Aufbegehren, kein dramatisches Gewitter, kein Wüten und Zornesbeben, das war der still und unendlich weit strömende Schmerz einer Frau, die alles – ihre Liebe, ihr Leben, ihre Kraft – in einem einzigen Moment verloren hat.

Natürlich wird diese Alcina weiterkämpfen, selbst als greiser Geist wird sie sich an den geliebten Ruggiero und das letzte Glimmen im Herzen ihres Liebhabers für sie neu zu entfachen versuchen, aber das ist dann auch schon das Ende dieser faszinierenden märchenhaften Geschichte.

Sie beginnt zunächst ein bißchen steif; das Orchester scheint einen Marsch auf dem Schützenfest einzuüben, das dem bürgerlichen Ambiente eines plastisch gezeichneten kleinen Familienheimes entspricht, vor dem beinahe unscheinbar in grauer, trister Kleidung zwei Figuren auf einer Bank sitzen, dann jäh in ein imganäres Boot steigen und mit ihm davongleiten. Wir erfahren noch nicht sehr viel, vermerken aber eine nun sich verändernde Bühnenrückwand, die jetzt ein leuchtendes, mit riesigen Schmetterlingen und farbenprächtigen Blumenkelchen verziertes Ambiente zeigt.  Die beiden Leute kommen also aus einer anderen, ernsthaften jetzt in eine märchenhafte Welt und werden blitzartig eingefangen von einer flatterhaften Schönheit, die sich lautmalerisch in die männlich verkleidete Bradamante verguckt und für entsprechende Verwicklungen im Laufe des Geschehens verantwortlich sein wird: ebenso verwirrend wie dramaturgisch beabsichtigt. Und auch der Geliebte dieser in wallende rote Rüschen verpackten Schönen, der Feldherr Oronte in moderner Freizeitkleidung, ist zunächst mehr verblüfft als gekränkt. Das kommt erst später als dieses Paar sich als Buffopart der Oper in köstlicher Weise entfalten kann. Für Nerita Pokvytyté und Luis Olivares Sandoval ein vergnügliches, artifiziell ausgereiztes Spiel!
Das fremde Paar, die Ritterin Bradamante und ihr Lehrer Molisso, sucht im Zauberreich von Alcina, einer in rosa Volants gehüllten ebenfso herrischen wie verführerischen Frau, deren schwarzer Pagenkopf schon eigentlich kein Barock mehr symbolisiert, nach dem vermissten Bräutigam Ruggiero,  Der ist jetzt der bisher letzte und derzeitige Geliebte Alcinas, durch deren Zauberei er seine Vergangenheit vergessen hat. Die Verlobte wie auch seinen alten Freund Melisso erkennt er nicht, während diese sich voller Qual das verliebte Turteln von Alcina und Ruggiero ansehen müssen. Dabei verleiht Candida Guida ihrer Bradamante einen durchaus zweigeteilten Ausdruck, teils abwartend, mit beinahe sicherer Zuversicht, dass sie ihren Verlobten zurückerobern wird, teils verzweifelt über die Avancen der stürmischen Morgana. Ihre ruhige Sicherheit kann Melisso, der sie väterlich liebt, gar nicht teilen. Stephen Clark tröstet die verlassene Braut in einem wunderschönen warmherzigen Part, und vielleicht ist er ja sogar selbst in sie verliebt… was ja der  Art einer verwickelten Personenstruktur in der Spieloper durchaus entspräche.

So ganz richtig barock ist das Ganze ohnehin nicht, dafür gibt es zuviel psychologische Hintergründe, denn die Sprache ist italienisch (nicht englisch) und auch das obige Buffopaar,  Alcinas Schwester Morgana (namensgleich mit aus der Fee aus der Artussage) und ihren beseite gedrängten, zunächst hilflosen Oronte, erinnert an Händels italienische Jahre (1706-1710)!  DerCharme der fkirrenden Morgana mag daher seine Anleihe haben, tänzelt und stampft doch diese abwechselnd stolz wie eine Spanierin, übermütig zwitschernd um sich selbst und ihr neues Opfer Ricciardo herum. Keck und selbstbewußt erobert sie zwar nicht sein (ihr) Herz, aber das bedeutend größere des Publikums. Da Morgana aber auch irgendwie eine Intrigantin, ein durchtriebenes Luder ist und ihr Werben um Ricciardo nicht aufgeben will, flüstert sie Ruggiero ein, der Neuankömmling habe Alcinas Liebe gewonnen und er, nun abgehalftert, werde alsbald in einen Stein verwandelt. Ruggiereo eifersüchtig nun seinerseits, hadert mit Alcina, die gar nicht weiß, was da läuft, und es bedarf vieler kunstvoll ausgeschmückter Arien, verschnörkelter Kapriolen und überzeugender Rezitative, um den Liebesfrieden wieder herzustellen. Allerdings hat Ruggiero eine noch weitaus schwierige Aufgabe, nämlich als er später – dank des Zaubertricks von Melisso – seine Erinnerung wiederfindet, und nun als echter Ritter-Gentleman der Ehre halber nun versuchen muß, das Richtige zu tun und niemanden zu kränken.  Ein Spiel mit zwei rivalisierenden Frauen, das zwar schön spaßig vorgeführt wird, aber sich sehr schnell als recht riskant erweist.

Die zahlreichen hübschen Einfälle in dieser Inszenierung wie die reizenden Kostüme, die unterirdische von fadenscheinigen Geistern betriebene Zauberwerkstatt, die vielen spielerischen Gags und die Hingabe der verzauberten und entzauberten schönen Frauen und verliebten Mannsbilder gehen weit über die traditionelle, ursprüngliche Intention der frühen Barockoper hinaus- weder hatte diesen einen moralischen Anspruch wie hier: Vernunft und Ehre contra Schäferspielchen, wobei stets höchste Anforderungen an die Stimmen der Primadonnen stellt, dachte nicht daran dachte, sie in wirklich tiefe dramatische Konflikte zu stürzen. Es blieb alles an der schönen Schein-Oberfläche. Händel, der in einer Zeit größter wirtschaftlicher Schwierigkeiten, – in Konkurrenz mit der Opera of Nobility – nach einer Alternative zum Bisherigen suchen mußte, schuf erstmals ein musikdramatisches Werk, das in der Individualität der Charaktere und in ihrer Entwicklung, ihrer Veränderung im Laufe des Spiels, alles überstieg, was bisher auf der Bühne gezeigt wurde (und evtl. schon auf Gluck und Mozart vorauswies). Er verlangte von den Sängern oft Unzumutbares und blieb unerbittlich: er macht die Oper zu einem Ort der beseelten Kunst anstelle  perfekter Künstlichkeit, wie sie es bisher war. So verändert sich Alcina von der harten egozentrischen Zauberfrau zur demütigenden Bitterstellerin, Bradamante, ohnehin Kämpferin, lernt erstaunt wie die Zauberkunst einer jeden Frau funktioniert, das Buffopaar bleibt sich in seiner Einfalt treu, und Ruggiero, der Mann, der alles ausgelöst hat? Für Ulrike Mayer eine tolle Hosenrolle, die sie mit Macho Charme und schaukelnden Schultern, aber zugleich voller Neu-männlicher Zärtlichkeit und erwachtem Gerechtigkeitssinn auszuüben versucht. Tänzerisch und kraftvoll ist sein Kampf gegen das eigene  Begehren, die Zerrissenheit zwischen imaginärer Scheinwelt und der grauen Realtiät, die seiner erwartet, wenn er in die Wirklichkeit zurückkehrt.  Die alten Geister locken und stoßen ihn gleichermaßen von sich. Die Frau, die ihn in ihren Bann schlug, hält immer noch einige Fäden in Spannung, die er lösen muß, will er wirklich seine Versprechen zu Bradamante einlösen. Ein sehr spannendes, aufregendes inneres Duell in einer intensiven Performance, und viel Beifall für Ulrike Mayer, die ihren Macho auch in tieferer Stimmlage trefflich markiert.

Viele Vorhänge und glühende Begeisterung zur Bremer Premiere für alle Mitwirkenden, dem zärtlichen Continuo mit Olga Watts, Hugo Miguel de Rodas, Axel Wolf, Ulf Schade und Hanna Weber, den einfühlsamen Musikern unter der Leitung von Marco Comin, sowie dem großen Mitarbeiterstab, der sich bei der anschließenden Premierenfeier beglückwünschen durfte. A. Cromme.

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