Der Mann ohne Eigenschaften, B


Der Mann ohne Eigenschaften
von
Robert Musil
 

 Literatur als dramatisches Spiel

 Bühnenbearbeitung von Olver Reese

Erstaufführung 2008

Deutsches Theater
Kammerspiele

Regie: Oliver Reese; Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler

mit: Alexander Khuon (Ulrich), Constanze Becker, Marie-Lou Sellem, Kathrin Wehlisch, Matthias Bundschuh, Frank Seppeler und Bernd Stempel

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Ein junger Mann, Ulrich, sucht nach dem Sinn des Lebens; als Mathematiker, ständig rational denkender, alle Emotionen sezierender und analysierender Mensch hat er die Freude am Leben und an sich selbst verloren. Ziellos- und lieblos wandert er durch die Welt, die ihm, ohne dass er es gemerkt hätte, entglitten ist. Die Freunde und Frauen am Wegesrand, die ihn lieben, bewundern, verehren, tötet er mit der Kälte seines Verstandes; ein Grübler, ein Zweifler, ein Melancholiker, der erfroren ist. Sein Geist rotiert wie die Erde, selbständig, unbeeinflussbar von äußeren Einflüssen; mag alles um ihn herum beben, wüten und zusammenbrechen; Er betrachtet alle Zufälle und Zusammenflüsse aus der inneren Ferne, die ihn festhält und nicht vorwärts kommen läßt. Indem er über die Frage “des rechten Lebens” räsoniert, für die er keinen Ansatzpunkt finden kann, weil alles um ihn herum “eigenschaftslos”, das heißt, beliebig, austauschbar, vorhersehbar und vom Menschsein losgelöst erscheint, stellt er sich als Beobachter und Suchender an den Rand einer Gesellschaft, die ohne ihn zu leben scheint.Auch die Frauen und Männer um ihn – als sein Alter Ego -suchen nach dem Sinn ihres Lebens, geistig schwadronierend und lamentierend, es herrscht allgemeine Weltuntergangsstimmung und Ich-Verneinung, wie sie auch wohl typisch war für die Wiener Sentimentalität, und typisch für die Zeit, in der Musil lebte und an diesem nicht vollendeten philosophischen-anthroposophischen Jahrhundertwerk bis zu seinem Tode arbeitete (1880 -1942); Der Romanzyklus von Proust “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” versteht sich ähnlich. Kaum jemand, außer Fachleuten und Fanatikern, hat diese Mammutwerke je zu Ende durchgearbeitet.Wie schön, dass Oliver Reese das schier Unmögliche versucht hat, den “Mann ohne Eigenschaften” in zwei Stunden auf der Bühne vorzuführen; Da das Deutsche Theater sich bereits an Musils “Schwärmern” und den “Verwirrungen des Zöglings Törless” recht eindrucksvoll versuchte, und man nun allenthalben an die Dramatisierung von epischen Romanen geht (s. auch “Die Gottlosen” im Maxim Gorki Theater), muss man sich jetzt wohl an eine neue, langsamere Spielart an unseren Theatern gewöhnen. Es ist nicht möglich, in der Kürze einer Aufführung die komplizierten intellektuellen Gedankengänge zu begreifen, aber man kann die entsprechende Literatur ja nachlesen. Doch wenn es den Darstellern gelingt, die Stimmung und die wesentliche Aussage eines Romans atmosphärisch durchscheinen zu lassen, so ist das schon recht viel. Und es gelingt Reese dank seiner vorzüglichen Schauspieler, die  – schwer genug ! – sich trotz der Abstraktion der Musil-Sprache als Persönlichkeiten offenbaren und eindrücklich darzustellen vermögen: Da ist natürlich Ulrich, der Denker und Grübler – Alexander Khuon mit gebeugtem Nacken, stets innerlich abwesend, leidenschaftslos und gänzlich allen emotionalen Anforderungen ausweichend, hat sich bereits in der Rolle des jungen Törless, der in seiner Distanz beinahe die Gebote der Menschlichkeit vergisst, so vorzüglich als Musil-Interpret bewährt. Der Erzähler wird von Frank Seppeler als spielerische Kunstfigur, als Joker eingebaut, um auch die Ironie transparent zu machen, die Musil als Mittel der distanzierten Betrachtung benutzt. Seppeler, gleichsam als Dichter selbst, tänzelt und steppt wie ein Clown aus neuer Zeit über die Bühne, der den lebendig in sich selbst begrabenen Figuren die Unergiebigkeit ihrer sezierenden seelischen Selbstfindungsversuche mit Anteil nehmender Ironie vor Augen führen möchte.

Emotional gehemmt und beinahe vertrocknet, dazu in einer Sprache, die umständlich umschreibt, was so einfach ist, erscheinen Ulrichs Jugendfreund Walter, der eine unglückliche, unverstandene Ehe führt, seine Frau Clarisse, die Ulrich liebt und ihn mit wahnhafter Leidenschaft “erlösen” will, Ulrichs Cousine und Salondame “Diotima”, die ihn ebenfalls begehrt, allesamt als verzerrte Spiegelungen von Ulrichs Selbstbildnis. Das Theaterstück reduziert die vielfältigen philosophischen Seinsaspekte und Erklärungen einer letztlich nicht endgültig zu gebenden Antwort auf die Erfüllung unserer Existenz in der Liebe; die Suche nach dem zweiten Ich. Platon wird als mögliche Antwort herbeizitiert, der Sokrates die Geschichte von der Spaltung des ursprünglich einheitlichen männlich und weiblichen Wesens erzählen läßt. Seither suchen die beiden Teile einander, finden aber niemals ihre wahre zweite Hälfte… Ulrich meint sie in seiner Zwillingsschwester Agathe zu sehen, doch die Zivilisation hat die Schranke des Inzests dazwischengestellt. Somit muss er auch diese Neigung auf eine metaphysische Ebene erheben, um sie gelten lassen zu können. 

Als gefährliche Entgrenzung – in einem anderen Zustand des Bewusstseins oder des Entrücktseins – erfährt sich der Mädchenmörder Moosbrugger, der den Mord im Trancezustand als in einer seiner selbst nicht bewussten Phase des Seins verübt und somit außerhalb aller Einsichtsfähigkeit steht. Dieser eigentlich ist der Mann ohne Eigenschaften, ohne ein bewusstes, menschlich wahrnehmbares “Ich”, ohne eigenen Willen und Verantwortung. Das ist eine gefährliche Variante oder Alternative, die Musil in böser Vorahnung auf die Nazi-Herrschaft ankündigt. Durch Bernd Stempel in seiner gewohnt leidenschaftslosen Sprach- und Stimmführung wird dieser scheinbar harmlose Mann zum Monster, zur gefährlichen Alternative für Intellektuelle, die nach etwas suchen, was sie von ihrer zermürbenden Denkqual befreit. Flucht in die Paranoia, Flucht vor Verantwortung vor sich selbst, die Möglichkeit einer geradezu idealen Ab- und Löslösung von der eigenen Existenz, die in der Zerstörung die endliche Befreiung findet?

Aussichtslos, möchte man meinen, dieses Häuflein Elender noch in ein lebendiges Leben zu führen. Deshalb ist Musil vielleicht auch niemals fertig geworden mit diesem Werk. Doch Reese schafft das leicht. Er blendet die anderen Romanfiguren aus, reduziert sie auf die oben genannten und läßt am Ende nach umständlicher meteorologischer Bewußtseinsanalyse Ulrich einen einfachen Satz finden, in dem sich Wahrheit und Empfinden vereinen, und der ihn aus dem Spinnennetz seiner faustischen Erkenntnisbemühungen befreit. Und das Publikum auch. Herzlicher Beifall. Sehens- und lesenswert! A.C.

 

 

 

 

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