Dead Man Walking

von Sister Helen Prejan
Vaganten Bühne

Regie: Martin Jürgens, Ausstattung: Petra Moser
mit: Wicki Kalaitzi, Fritz Bleuler, Martin Molitor

 

 

Warten auf Vergebung

“Dead Man Walking” ist der letzte Aufruf, bevor der Delinquent in die Todeszelle gebracht wird. In Amerika. Und es ist die Geschichte von vielen Männern und Frauen, die der schlimmsten Verbrechen wegen verurteilt und hingerichtet wurden und immer noch werden. Gegen die Todesstrafe kämpfen seit jeher beherzte Frauen und Männer, doch in verschiedenen Staaten Amerikas noch immer ohne Erfolg.

Eine der engagiertesten Verteidigerinnen der Menschlichkeit und der christlichen Barmherzigkeit ist die amerikanische Ordensschwester Helen Prejean, 1939 in Louisana geboren und seit ihrem 18. Lebensjahr Angehörige der katholischen Kongregation von St. Joseph. Mit langer Erfahrung in der sozialen Mission, in Wohnprojekten und in der Fürsorge für Bedürftige, wurde sie mit 40 Jahren zum ersten Mal um die seelsorgerische Betreuung eines zum Tode verurteilten Verbrecher gebeten, den Mörder Patrick Sonnier, mit dem sie fortan regelmäßig korrespondierte und den sie im Gefängnis besuchte. Auch einen zweiten Inhaftierten, Robert Willie, stand sie bis zu seiner Hinrichtung als geistliche und seelische Vertraute zur Seite.  Angesichts der verzweifelten Angehörigen gründete sie die Organisation “Survive”, die den betroffenen Familien rechtliche und finanzielle Unterstützung sicherte. Ihre Erfahrungen sind in ihrem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Buch “Dead Man Walking” beschrieben, und nach einer Filmbearbeitung auch als Oper einem großen Publikum zugänglich gemacht worden.

In der Bühnenfassung der Vaganten stehen sich die hier recht junge Schwester Helen, von Wicki Kalaitzi sehr seelenvoll und barmherzig dargestellt, und der Verbrecher Jake im Besuchsraum des Gefängnisses gegenüber, bis zum Schluss durch eine Glaswand getrennt. In wenigen Sätzen tasten sie sich zunächst vorsichtig aneinander heran, während der Wärter (Fritz Bleuler, sichtbar bemüht um korrektes Unbeteiligtsein) im Hintergrund als sorgsamer Beobachter harrt. Dass dieser eines Tages an dieser furchtbaren Aufgabe zerbrechen wird, wird leider nur im HIntergrund angedeutet, wie überhaupt die dramatische Komponente wohl absichtlich reduziert wird  und daher die Betroffenheit des Zuschauers erst in der allerletzten Szene, unmittelbar vor der Hinrichtung Jakes, aufgerüttelt wird.

Für Martin Molitor, einem schweren großen Mann mit weichem, beinahe ins Kindliche wechselnden Gesichtsaudruck, ist die Rolle des Jake eine gigantische Aufgabe, die er mit steigernder Intensität meistert: vom desinteressierten, kettenrauchenden “unschuldigen” Macho, der uneinsichtig die schreckliche Tat – Vergewaltigung und Mord eines jungen Paares -verdrängt, weil er es vielleicht selbst nicht fassen kann, welch ein Monster da in aus ihm hervorgetreten ist, bis zum trotzigen, verwahrlosten Straßenkind, das die traurigen Familienverhältnisse nicht bewältigen konnte. Stets auf der Suche nach Zugehörigkeit, nach einer Frau an Mutter Statt und nach und nach durch Drogen, Diebstahl und andere Delikte einem Milieu zugehörig, das keinen Ausstieg mehr gestattet. Angekommen und geendet auf der untersten Sprosse der Lebensleiter.

Das alles resümiert er weder weinerlich, noch reuevoll oder voller Selbstmitleid, sondern sachlich, gefasst, so als ob sein Leben anders nicht möglich gewesen wäre. Dieser Mann ist, was er ist – und, er hat die Tat  – natürlich – nicht begangen, sondern sein Kumpel, deren widerwilliger Helfershelfer er nur war. Seine Sicht des schrecklichen Geschehens ist unumstößlicher Selbstschutz. Helen ist ebenso hilf- wie fassungslos. Sie besucht den Vater des ermordeten Mädchens und erlebt dessen Wut und Verzweiflung und Unnachgiebigkeit. Der Täter muss sterben! Er will mit Helen nicht länger reden als er hört, dass sie den Mörder im Gefängnis besucht. Und Jake: Wie reagiert er daraufhin? Wütend. Kein Mensch dürfe einen anderen töten. Paranoid?

Einige Male rückt die Schwester Jakes drastisches, rassen- und menschenfeindliches Weltbild zurecht. Die seltsame Schicksalsgemeinschaft, die ihm eine faschistische Gruppe Gleichgesinnter anbietet, entdeckt sie ihm als tückische Scheinwelt, die voller Hass und Gewalt und Lüge ist. Aber Jake ist gedanklich nicht fähig, aus dem Konkon seiner Welt der kriminellen Verwahrlosung noch einmal herauszutreten. Dabei ist er nicht unliebsam, nicht unsympathisch – das ist es, was die Schwester und uns so fassungslos werden lässt. Jenseits aller Psychologisierung vollzieht sich hier ein trauriger Lebensrückblick, es bleibt ein kurzer Aufschub, dann doch wieder das gleiche Urteil:  Dead Man Walking.

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