Klassenfeind

von Nigel Williams
Schaubühne am Lehniner Platz

Warten auf Godot?

Unerträglich endlos gefühlte Minuten klappt das Mädchen die blecherne Schranktür auf und zu, auf und zu. Drei andere lehnen an den Wänden, hocken auf dem Boden im engen Raum mit ihren Schreibutensilien oder hören Musik: Alle warten auf irgendetwas, wenn auch nicht sonderlich interessiert, eher gleichmütig, gelangweilt, latent aggressiv. Was nun folgt ist ein Horrortrip schlimmsten Ausmaßes. Ich weiß nicht, ob der Text sich nur noch vage an der englischen Vorlage orientiert oder ob er in dieser unsäglichen, unglaublichen Gossensprache wirklich so verfasst worden ist. Und, ob diese vier Mädchen, ein fünftes wird später hinzukommen, als asoziale Schülerinnen einer 10. Klasse gebrandmarkt, nicht eher allesamt, so wie sie hier mit bedrückenden Eindringlichkeit vorgestellt werden, in eine psychiatrische Einrichtung gehören – und nicht in eine normale Schule. Und es ist auch nicht einsichtig, warum man diese Psychopein, die nichts anderes hinterlässt als abgrundtiefe Traurigkeit, überhaupt ertragen muss. Aber auch die Schauspielerinnen sind zu mitleiden, die sich dieser Höllenfahrt unterziehen müssen – das allerdings mit absoluter Hingabe.

Was sich da im Klassenzimmer (einer englischen Schule) abspielt, hat auch keine allgemein künstlerische Intention oder eine gesellschaftlich relevante oder gar pädagogische Konsequenz. Es ist lediglich das extreme Abbild einer möglichen Wirklichkeit, die aber jenseits der alltäglichen Vorstellungskraft liegt und keine allgemeingültigen Maßstäbe enthält. Der Kern mag vielleicht stimmen: Eine wilde undisziplinierte Mädchenklasse hat nach und nach alle Lehrer dermaßen terrorisiert, dass keiner aus dem Kollegium sich mehr in diese zerstörerische Klasse traut. Jetzt warten die Mädchen auf ein neues Opfer – und vertreiben sich die Zeit mit verbaler Brutalität, schlimmsten Beschimpfungen und Anfeindungen bis hin zu blutigen Tätlichkeiten, als ob sich Furien eines Frauengefängnis bekämpfen. “Fetzer”, Prototyp einer sadistischen Aufseherin, und die um Mäigkeit bemühte “Vollmond” sind die Anführerinnen, doch ihrer beider Einstellungen sind unversöhnlich und voller Wut; ungezügelt ist der Hass “Fetzers”, die am liebsten die ganze Menschheit vernichten möchte und doch letztendlich auf jemanden wartet, der ihre tausendundein Fragen nach dem Sinn des Lebens, ihres Lebens, beantwortet. Vollmond ist noch voller Hoffnung – für sich, für das Leben, auch wenn alles absolut “beschissen” ist. Sie wartet zusammen mit den anderen der Gruppe am Ende sehnsuchtsvoll auf einen Menschen, der sie alle aus ihrem Gefängnis erlösen wird – auf Godot?

Fetzer bestimmt mit harter Gewalt, als sie merken, dass sie nun allein auf sich gestellt sind, die Mädchen der Reihe nach unterrichten müssen. Die zarten Pflanzen, die nach und nach seelisch bei diesen verrohten Kindern aufbrechen, werden immer wieder von Fetzer, die kein Gefühl ertragen kann, mit Hiebe und zersetzender Häme zerstört. Scheinbar harmlose Inhalte des “alternativen Unterrichts” wie: Pflanzenkunde: die mühselige Begrünung eines kleinen Balkons; oder: Ernährungskunde – die Zubereitung einer bescheidenen Mahlzeit, wie Vollmond sie ihren blinden Eltern zubereitet, oder die Frage nach den Gründen für Fremdenhass, der das die türkische Mädchen in die Kriminalität trieb, zerplatzen in dieser rüden Atmosphäre so schnell wie Seifenblasen; Auch der kleine Moment, in dem sich die Heimat- und Orientierungslosigkeit der Mädchen angesichts ihrer alkoholkranken Eltern offenbart, dokumentiert die Verelendung und Verhärtung dieser in ihren eigenen Stricken gefangenen kleinen Gemeinschaft. Aber das genügt noch nicht dem Anspruch eines Schauspiels!
Denn auch, wenn zuweilen ein Fünkchen Humor einen möglichen Hoffnungsschimmer signalisiert, kann die Inszenierung so nicht überzeugen. Sie gleicht eher einem Spot, einem Ausschnitt, der aber das Ganze zurückhält. Es ist doch nicht Sartres “Geschlossene Gesellschaft”, die hier anvisiert wird – denn die entwirrt ein dramaturgisches Charaktergeflecht! Was will der Autor, was die Regie beweisen? Im April 1981 wurde das Stück von Peter Stein an eben diesem Theater aufgeführt – wer noch eine Filmaufnahme sehen kann, sollte das unbedingt nutzen. Und vielleicht auch die Inszenierung an den Vagantenbühne zum Vergleich heranziehen, wo die Protagonisten nicht so kriminell verwahrlost sind, sondern ihre Defizite und Zerstörungen differenzierter dargestellt werden. A.C.

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